Polit-System am Wendepunkt

Neueinsteigerin Irmard Griss fegt die etablierte Politik vom Platz
SPÖ und ÖVP stellen sich auf ein historisches Hofburg-Debakel ein. Vor Neuwahlen scheuen sie zurück.

Die Bundespräsidentenwahl könnte zu einem Wendepunkt für Österreichs politisches System werden.

Bei aller gebotenen Vorsicht zeichnet sich in den Meinungsumfragen der Trend ab, dass die Kandidaten jener Parteien, die seit 1945 abwechselnd den Bundespräsidenten stellen, diesmal schon im ersten Wahlgang aus dem Rennen fliegen.

Das künftige Staatsoberhaupt dürfte demnach ein Grüner oder ein Blauer werden oder eine honorige Richterin, die ohne Apparat, ohne Medienerfahrung und ohne Parteienförderung quasi im Alleingang die etablierte Politik vom Platz fegt.

Für SPÖ und ÖVP wäre dies ein Debakel historischen Ausmaßes. Erstmals würde sich der seit langem anhaltende Trend der sich auflösenden traditionellen Lager im Verlust eines hohen Staatsamts materialisieren. Seit den letzten dreißig Jahren ist es ja so, dass SPÖ und ÖVP zwar von gemeinsamen neunzig auf fünfzig Prozent Wähleranteil abgebaut haben, aber Machtpositionen haben sie dadurch nicht eingebüßt. Es gibt immer noch nur rote oder schwarze Landeshauptleute, Kanzler, Bundespräsidenten und von SPÖ und ÖVP ausgesuchtes Personal an den Schlüsselstellen des Staats. Die Haider-FPÖ hat an den parteipolitisch durchdrungenen Machtstrukturen nichts zum Positiven verändert, sondern nur selbst kräftig mitgenascht.

Vertrauenskrise

Eine "fundamentale Vertrauenskrise in die etablierte Politik" lesen Experten aus den aktuellen Hofburg-Umfragen heraus und führen als Beleg den erstaunlichen Zulauf zu Irmgard Griss an. Die "Trägerrakete" der unabhängigen Richterin sei, dass sie "außerhalb und über den Parteien" stehe.

Nicht nur, dass sich die Politik-Einsteigerin bisher überraschend gut hält, hat Griss in der entscheidenden Phase zwei Wochen vor dem Urnengang ein Momentum erwischt, das sie neuerlich auf Aufwärtskurs bringt: Viele, die weder einen grünen noch einen blauen Bundespräsidenten wollen, präferieren nun Griss, weil sie eine Stimme für Andreas Khol oder Rudolf Hundstorfer für wertlos halten. Auch der grüne Alexander Van der Bellen dürfte leicht an Griss verlieren, bekommt andererseits aber Zulauf aus dem SPÖ-Reservoir.

Darf man den Wahlforschern glauben, geht es am 24. April nur mehr darum, welche zwei von den drei – Van der Bellen, Griss oder Norbert Hofer – in die Stichwahl kommen.

Würfel gefallen

Dass ihre Kandidaten kaum noch Chancen haben, befürchten offenkundig auch SPÖ und ÖVP. Wichtige Exponenten aus beiden Parteien besprechen zur Zeit in kleinen, trauten Zirkeln, wie es mit der Regierung nach der Bundespräsidentenwahl weiter gehen könnte. Die Würfel sind dem Vernehmen nach insofern gefallen, als es keine vorgezogenen Nationalratswahlen geben wird. In Regierungskreisen kursiert ein Horror-Szenario, wonach die FPÖ bei einer vorgezogenen Neuwahl eine Größenordnung erreichen könnte wie SPÖ und ÖVP zusammen – an die 40 Prozent. Das wollen SPÖ und ÖVP nicht riskieren.

Die hervorragenden FPÖ-Werte bei der Nationalratswahl-Frage hält auch den Fanclub von Sebastian Kurz davon ab, ihr Idol auf den Thron zu heben. Der Außenminister selbst verbreitet ebenfalls, dass er jetzt nicht ÖVP-Chef werden wolle. Der Hintergrund ist simpel: Kurz will nicht der vierte Vizekanzler werden, den Kanzler Werner Faymann verschleißt. Wenn Kurz das Ruder in der ÖVP übernimmt, dann gibt es keine Durchwurschtel-Koalition mehr, sondern eine Neuwahl. Und da eine Wahl derzeit für die ÖVP nicht zu gewinnen ist, gibt es keinen Kurz.

In der SPÖ sind eher keine Turbulenzen zu erwarten. Hundstorfer ist der Kandidat der Wiener und der Gewerkschafter, also der beiden verbliebenen Machtblöcke in der SPÖ, die – abgesehen von den Pensionisten – noch die größte Mobilisierungskraft entfalten können. Geht die Wahl schief, müssen sie die Kritik an sich selbst richten.

Griss besiegt Hofer & VdB

Ein Blick noch auf mögliche Stichwahl-Ergebnisse laut Umfragen: Das Match Van der Bellen/Hofer gewinnt Van der Bellen, weil eine Mehrheit der Österreicher keinen Blauen will, obwohl Hofer sympathisch wirkt. Das Match Van der Bellen/Griss gewinnt Griss, weil eine Mehrheit der Österreicher eher keinen Grünen will, obwohl Van der Bellen in die Mitte rutscht.

Kommt Griss in die Stichwahl, schlägt sie sowohl den Grünen als auch den Blauen, weil sie die Stimmen des jeweils anderen Lagers einsammeln würde.

Dann wäre die Richterin Staatsoberhaupt.

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