IV-Ökonom über Österreichs Wirtschaft: "Das ist kein Aufschwung"

Chefökonom der Industriellenvereinigung: Christian Helmenstein
Der Chefökonom der Industriellenvereinigung sieht "keinen Grund, die Sorgenfalten zu glätten", plädiert dafür, Förderungen zu streichen und sagt, welche Branche die Transformation schafft.
KURIER: Derzeit sprechen die einen davon, dass in der Wirtschaft ein zartes Pflänzchen wächst, die anderen - wie Remus-Chef Stephan Zöchling -, dass wir mit 200 km/h gegen die Wand fahren. Wo stehen Sie?
Christian Helmenstein: Ich fürchte, ich muss mit einer Enttäuschung aufwarten. Auch im Falle von Italien haben wir während der ersten beiden Dekaden dieses Jahrhunderts gesehen, dass es Zwischenerholungsphasen gab, aber dass zwischen 2000 und 2021 überhaupt kein reales Wachstum zu verzeichnen war. Derzeit befinden wir uns in Österreich in einem ähnlichen Stagnationsregime wie seinerzeit Italien. Das heißt: Eine marginale Expansion unseres BIPs um rund ein Prozent, wie für das kommende Jahr erwartet, ist kein Aufschwung. Und die Aussichten sind auch nicht geeignet, die Sorgenfalten in irgendeiner Weise zu glätten.
Christian Helmenstein: studiert Volks- u. Betriebswirtschaftslehre in Köln, promoviert in Bochum, arbeitet von 1992 - 2004 am Institut für Höhere Studien (IHS). Seit 2004 ist er Chefökonom der Industriellenvereinigung.
Die IV ist eine freiwillige Interessensvertretung und hat laut eigenen Angaben mehr als 5.000 Mitglieder aus dem produzierenden Bereich, der Kreditwirtschaft, der Infrastruktur sowie industrienaher Dienstleistungen.
Verstehe ich Sie richtig: Bei 0,3 oder 0,4 Prozent von Wirtschaftswachstum zu sprechen oder bei 7,3 statt 7,5 Prozent Arbeitslosenrate von Trendwende ist aus Ihrer Sicht falsch?
Statistisch gesehen handelt es sich bei Plus 0,3 Prozent um eine geringfügige Expansion unserer Wirtschaftsleistung. De facto sind alle Prognosen aber mit der üblichen Unsicherheit behaftet. Das heißt: Ich würde Veränderungen um Zehntelprozentpunkte im Bereich des sogenannten „statistischen Rauschens“ verorten. Wir befinden uns weiterhin in einer Stagnationsphase. Da wir gerade aus der am längsten andauernden Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg herauskommen, mag sich selbst eine Stagnation wie eine Verbesserung anfühlen, ein Aufschwung ist das jedoch nicht.

Klausur der Bundesregierung: Andreas BABLER/Christian STOCKER/Beate MEINL-REISINGER
Sie sehen also kein Licht am Ende des Tunnels?
Das Bild vom Licht am Ende des Tunnels impliziert: Wir wollen nach vorne blicken und nicht zurück. Wenn wir uns die Frage stellen, wie lange der Tunnel der Stagnation anhalten wird, dann müssen wir nüchtern festhalten, dass es derzeit noch kein Licht gibt. Wenn man der mittelfristigen Wirtschaftsprognose des IWF (IWF, Internationaler Währungsfonds) folgen möchte, die bis 2030 reicht – also immerhin die gesamte zweite Hälfte dieser Dekade umfasst – und Österreich mit den anderen Ländern der Weltwirtschaft vergleicht, dann sehen wir: Österreich ist bei den Wachstumsaussichten auf Platz 189 von 194 Ländern angesiedelt. Wenn wir nichts tun, dann werden wir zu den Letzten gehören, die das Licht am Ende des Tunnels sehen.
Um bei dem Bild zu bleiben: Was kann die Regierung tun, wenn es derart zappenduster ist? Gerade wird über die Senkung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel diskutiert, sich über die Einigung bei den Beamtengehältern gefreut.
Was jetzt bei den Beamtengehältern erreicht wurde, weist in die richtige Richtung. Das ändert aber nichts daran, dass die großen Herausforderungen dringend anzugehen sind. Das bedeutet einen drastischen Abbau der bürokratischen Belastung im Ausmaß von mindestens 75%, am besten 90%, ebenso wie die nötigen Reformen im Pensions- und Gesundheitssystem sowie bei der föderalen Aufgabenzuordnung umzusetzen.
Die Regierung will in den kommenden Wochen eine Industriestrategie vorlegen. Hat der Staat die Aufgabe eine Strategie vorzugeben oder muss er nicht eher Rahmenbedingungen schaffen?
Wir sind mit vier großen Widrigkeiten konfrontiert, was die Absicherung des Industriestandortes Österreich betrifft. Ein Element sind die Energiekosten, das zweite die Steuer- und Abgabenbelastungen, das dritte bürokratische Überbelastungen, das vierte die Lohnstückkostendynamiken. Gegebenenfalls auch noch der Fachkräftemangel, aber erst bei einem Aufschwung, der diese Bezeichnung als solcher auch verdient. Die Lohnstückkostendynamik wiederum setzt sich zusammen aus der Nominallohn- und der Produktivitätsentwicklung. Insbesondere schaffen wir es in Österreich nicht mehr, Produktivitätsdynamik zu entfalten.

Was schaffen wir nicht?
Höhere Lohnsteigerungen lassen sich verkraften, wenn sie mit noch höheren Produktivitätssteigerungen unterlegt sind. Genau das war aber in den letzten Jahren nicht der Fall, weshalb wir uns durch entsprechend hohe Lohnstückkostendynamiken aus den internationalen Märkten gepreist haben. Nach Jahrzehnten gezielter Exportanstrengungen, die zu einer Zunahme der Exportquote im Trippelschritttempo geführt haben, ist selbige während der letzten beiden Jahre um 5 Prozentpunkte regelrecht abgestürzt. Gleiches gilt für die Energiestückkosten, also jenen Energiekostenanteil, der in jeder Einheit eines Produktes oder einer Dienstleistung enthalten ist. Auch hier müssen wir schnellstmöglich auf wettbewerbsfähige Niveaus herunterkommen. Das geht aber nicht von heute auf morgen, es sei denn, man würde bei der Steuer- und Abgabenbelastung auf Energie, insbesondere Strom, ansetzen.

Deregulierungsstaatssekretär, Wirtschafts- und Finanzminister
Nimmt die Dreierkoalition Ihres Erachtens nach Eingriffe in der Struktur vor?
Ich nenne ein neutrales Beispiel: Förderungen für Unternehmen wie private Haushalte. Wir müssen uns bewusst machen, dass jede einzelne Fördermaßnahme mit einem zusätzlichen bürokratischen Begleitaufwand einhergeht. Eine Fördermaßnahme muss konzipiert, implementiert, kontrolliert und vielleicht auch noch evaluiert werden. Das heißt: Mit jeder einzelnen Fördermaßnahme geht eine zusätzliche Bürokratie einher, sowohl auf der öffentlichen Seite als auch auf der Seite der Förderempfänger. Ich bin ein Freund davon, im Bereich der Fördermaßnahmen einen Großteil zu streichen und sich auf einige wenige mit nachgewiesener Wirkung zu einigen.

Wir sprachen von Rezession und Stagnation. In welchen Bereichen sehen Sie als Ökonom Wachstumspotenzial in Österreich?
Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass die Individualmobilität keine Zukunft hätte. Österreichs Automobilzulieferindustrie geht die Transformation vorbildlich an. Wenn Sie sich die Patentstatistik anschauen, stellen Sie fest, dass wir immer noch sehr stark bei der Patentierung im Bereich der Verbrennertechnologien sind und parallel dazu eine prominente Position bei alternativen Antrieben errungen haben. Das ist typisch für eine Übergangsphase, in der man im angestammten Bereich seine Kernkompetenzen noch bestmöglich zu nutzen versucht und schon Erfolge bei neuen Technologien vorweisen kann. Insofern wäre es zu früh, die österreichische Automobilzulieferindustrie abzuschreiben. Ein Auto auf vier Rädern kann schnell jemand bauen, wie wir an der großen Zahl von Automobilherstellern weltweit sehen. Ob diese in ein paar Jahren qualitativ in derselben Liga spielen wie europäische Hersteller, das werden nicht nur technische Tests, sondern vor allem der Markt noch zeigen.
Gibt es noch weitere Industrie- und Wirtschaftszweige?
In der Bahntechnologie ist Österreich innovationsseitig hervorragend aufgestellt, aber die Unternehmen leiden unter den extrem schwierigen, schon genannten Rahmenbedingungen von Energie- bis Lohnstückkosten. Dann kommt hinzu, dass der europäische Binnenmarkt gerade in diesem Sektor von perfekt weit entfernt ist. Es gibt kaum einen fragmentierteren Markt als jenen für Bahntechnologie. Die chemische und pharmazeutische Industrie hat große Chancen, nicht zuletzt aufgrund des Einsatzes von Künstlicher Intelligenz bei der Entwicklung neuer Wirkstoffe, zudem benötigen wir eine konsequente Umsetzung der nationalen Wasserstoffstrategie. Und schließlich ist eine Kompetenz zu erwähnen, die in der Öffentlichkeit kaum bekannt ist: Edge Computing.
Was kann Österreich im Bereich der Digitalisierung besser?
Edge Computing setzt auf hochspezialisierte Chips, die anders als Cloud Computing dezentral Steuerungsaufgaben übernehmen. Wenn wir eines Tages wirkliche Smart-Homes haben werden, dann wird mittels Edge Computing der optimale Zeitpunkt für den Betrieb der Waschmaschine automatisch gewählt, weil der Strom am günstigsten ist. Bei Design, Entwicklung und Produktion solcher Chips sind europäische Unternehmen, die auch Produktionsstätten in Österreich unterhalten, weltführend. Hier bietet sich nach meinem Dafürhalten eine der nächsten großen Erfolgsperspektiven für die österreichische Industrie.
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