Der VfGH ist in den letzten Jahren durchaus auch ein tagespolitischer Player geworden: Stichworte U-Ausschuss, Corona-Maßnahmen, Sterbehilfe. Wie sehen Sie diese Rolle des Höchstgerichts?
Es ist ein europäischer Trend, dass Verfassungsgerichte vermehrt Fragen zu entscheiden haben, die im politischen Bereich liegen. Was aber der VfGH im Unterschied zum Gesetzgeber macht: Er entscheidet Fragen mit gesellschaftspolitischem Bezug am Maßstab des Rechts, der Verfassung und der Grundrechte.
Halten Sie diesen Trend für gut?
Diese Entwicklung haben wir uns nicht ausgesucht, aber es ist unser Auftrag, Dinge, die an uns herangetragen werden, zu entscheiden. Wir nehmen also diese Rolle an, die uns von Bürgerinnen und Bürgern gegeben wird.
Ist diese Entwicklung eine Folge der Entscheidungsschwäche der Politik?
Das hat der VfGH nicht zu bewerten. Was wir immer berücksichtigen: Wir räumen dem Gesetzgeber einen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum ein. Es gibt äußere Schranken, innerhalb derer der Gesetzgeber seine Entscheidungen zu treffen hat.
Wie sehr bildet der VfGH das politische Spektrum ab bei der Entscheidung über hochpolitische Fragen?
Der VfGH besteht aus 14 Frauen und Männern, die hochqualifizierte Juristinnen und Juristen sind, die aber sehr unterschiedliche Biographien haben; aus der Binnensicht kann ich sagen: Wir bilden ein breites Spektrum von Anschauungen ab.
Der VfGH wurde zuletzt auch vielfach kritisiert, etwa wegen der Entscheidung, alles „abstrakt Relevante“ müsse dem U-Ausschuss zur Verfügung gestellt werden. Wie bewusst sind sich die Richter der politischen Konsequenzen ihrer Entscheidungen?
Man ist sich bewusst, dass man mit sehr allgemeinen Begriffen hantieren muss. Und der VfGH hat in diesem konkreten Beispiel – wie in vergleichbaren Fällen – immer sehr genau darauf geachtet, ob hinreichende Begründungen gegeben waren und ob die verfahrensrechtlichen Regeln eingehalten wurden.
Manche sprechen von einer Entwicklung hin zu einem Richterstaat …
Diesen Kritikern würde ich entgegnen, dass es in der Hand der Politik liegt, die Entscheidungen zu treffen, sich der VfGH in der konkreten Judikatur zurückhält und dem Gesetzgeber im Fall der Verfassungswidrigkeit – wie etwa beim assistierten Suizid – eine Reparaturfrist von einem Jahr setzt.
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