Österreich setzt den Familiennachzug aus, Deutschland will Asylwerber an der Grenze zurückweisen. Europarechtlich rechtfertigt nur ein "Notstand" diese Pläne. Ist ein solcher gegeben?
Sowohl die deutsche als auch die österreichische Regierung kündigen Verschärfungen in puncto Migration und Abschiebung an. Doch was genau? Und was ist derzeit rechtlich möglich? Der KURIER beantwortet die wichtigsten Fragen.
Was haben SPD und CDU/CSU in ihren Sondierungsgesprächen bezüglich Abweisung von Flüchtlingen und Migranten an den Grenzen vereinbart?
Union und SPD wollen künftig Asylwerber an ihren Grenzen abweisen – notfalls auch ohne Zustimmung der Nachbarländer. Sollte die schwarz-rote Regierung in Deutschland zustande kommen, will sie sofort die Grenzkontrollen ausweiten. Die Rückweisung von Menschen, die einen Asylantrag stellen, soll dann „in Abstimmung“ mit dem jeweiligen Nachbarstaat passieren – nicht aber notwenigerweise im Einvernehmen mit diesem.
Wie reagiert die österreichische Bundesregierung darauf?
Gerhard Karners Innenministerium (BMI) hat die Pläne am Sonntag zurückgewiesen. Laut EU-Recht dürfe Deutschland Menschen, die einen Asylantrag stellen, nicht formlos an der Grenze abweisen. Die österreichische Polizei werde solche Rückweisungen nicht akzeptieren. Bundeskanzler Christian Stocker (ÖVP) sagte wiederum der Bild: Es sei erfreulich, dass nun auch Deutschland konsequent gegen illegale Migration vorgehe. Und: Sollten Deutschlands Maßnahmen Auswirkungen auf Österreich haben, „werden wir entsprechende Maßnahmen setzen, um dem wirkungsvoll zu begegnen“, so Stocker. Gleichlautend argumentiert am Montag auch das BMI gegenüber dem KURIER, verweist aber wiederholt auf die geltende Rechtslage.
Wären die Abweisungen an der Grenze mit EU-Recht kompatibel?
Laut der EU-Dublin-Verordnung nicht. Sollte der Asylwerber illegal eingereist sein, ist im Normalfall jener Staat für das Asylverfahren zuständig, über den er die EU betreten hat. Diese Zuständigkeit muss laut Dublin-Regeln geklärt werden, dann darf beispielsweise Deutschland den Flüchtling an den betroffenen EU-Staat überstellen. Legal zurückweisen kann ein EU-Staat nur Menschen, die keinen Asylantrag stellen.
Die EU will jedoch künftig schneller und effektiver illegale Migranten in Drittstaaten abschieben können. Laut Zahlen der Statistikbehörde Eurostat wurden im Jahr 2023 insgesamt 480.000 Personen aus Drittstaaten aufgefordert, die EU zu verlassen – tatsächlich passiert ist das aber letztlich nur in jedem fünften Fall.
In Ausnahmesituationen können sich EU-Staaten auf Artikel 72 im EU-Vertrag – die EU-Notfallklausel – beziehen. Zum „Schutz der inneren Sicherheit“ oder der „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“ könnte Deutschland damit argumentieren.
Beruft sich auch Österreich auf den Notstand?
Österreichs türkis-rot-pinke Koalition will, ebenso mit Verweis auf Artikel 72, den Familiennachzug für Asylberechtigte aussetzen. Wo besteht der Notstand? Laut BMI im Wiener Bildungssystem. Dieses war vor allem vor einem Jahr teils stark überlastet, weil tausende syrische Kinder nachgeholt wurden. Der Beschluss soll bereits am Mittwoch im Ministerrat fallen, vergangene Woche hat Karner die EU beim Innenministertreffen über Österreichs Pläne informiert. EU-Migrationskommissar Magnus Brunner pochte auf die Einhaltung europäischen Rechts. Ein Großteil der heimischen Experten sieht aktuell keinen Anwendungsfall für die Notfallklausel.
Wird das Aussetzen des Familiennachzugs die Zuwanderung stark begrenzen?
Derzeit eher nicht. Die Anträge auf Familiennachzug sind bereits im Verlauf des Vorjahres stark gesunken. Der Großteil der Anträge wurde in den vergangenen Jahren von Syrern gestellt. Nach dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien, Ende 2024, stoppte Österreich alle Verfahren aus Syrien. Im Jänner 2025 genehmigte Österreich nur 91 Einreisen. Bereits Mitte 2024 setzte die ÖVP zusätzlich DNA-Tests zur Prüfung der Familienangehörigkeit durch.
Hegt Deutschland ähnliche Pläne?
Union und SPD debattieren, den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte auszusetzen. Also für Menschen, die kein Recht auf Asyl haben, denen aber eine Rückkehr in ihr Herkunftsland nicht zumutbar wäre. Derzeit erteilt Deutschland maximal 1.000 Visa pro Monat für Familienangehörige jener Gruppe.
Wie ist die Migrationslage in Europa allgemein?
208.679 Flüchtlinge und Migranten erreichten im Vorjahr 2024 die EU. Damit ist die Zahl der Grenzübertritte deutlich geringer als 2023, als 292.985 Menschen nach Europa kamen. Stand 4. März beträgt die Zahl der Ankünfte heuer 20.513. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es 29.410. Auffallend ist, dass die Zahl der Asylwerber aus der Sahelzone stark zunimmt – allen voran Mali. Laut der Internationalen Organisation für Migration landeten im Vorjahr 31.541 Flüchtlinge und Migranten aus dem Bürgerkriegsland auf europäischem Boden. In Mali unterstützt die russische Wagner-Gruppe die dortigen Streitkräfte im Krieg gegen Separatisten und Terroristen.
Die Kämpfe halten auch Staaten wie Burkina Faso und Niger in Atem, die prorussischen Putschregierungen haben alle europäischen Streitkräfte des Landes verwiesen. Experten rechnen mit einem weiteren Anstieg der Flüchtlingszahlen aus der Sahelzone nach Europa. Niger hat die Schlepperei durch die Sahara wieder erlaubt, vor dem Putsch 2023 hatte ein Abkommen zwischen EU und Niger genau das verhindern sollen.
Sind Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan möglich?
Immer wieder in Wahlkämpfen beschworen, manchmal knapp vor Wahlen etwa von der deutschen SPD einmalig durchgeführt, ist eine Rückführung abgelehnter Asylwerber derzeit rechtlich kompliziert. Es ist nicht nur der Beweis nötig, dass der Asylwerber in seiner alten Heimat in keiner Weise verfolgt oder bedroht wird, sondern auch die Bereitschaft der jeweiligen Regierung, diese Rückführung auch zu akzeptieren.
Mit dem Taliban-Regime in Afghanistan ist das schwer möglich. Deutschland hat bei seiner „Show-Rückführung“ deshalb einen Umweg gewählt und die Ausreisepflichtigen in das Golf-Emirat Katar abgeschoben. Die übernahmen dann die Rückkehr nach Afghanistan. „Nach Afghanistan und Syrien werden wir abschieben“, steht im deutschen Sondierungspapier – ohne weitere Erläuterungen. Bleibt die diese Position, dürfte sich mit Deutschland der politische Druck auf Brüssel in puncto Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan verstärken.
Wie ist derzeit die Lage in Syrien und wie wirken sich die aktuellen Vorkommnisse auf die Migrationslage in Europa aus?
Nach dem Massaker an Alawiten, Christen und Schiiten in Latakia ist klar, dass es der syrischen „Übergangsregierung“ nicht gelungen ist, den propagierten „inklusiven Staat“ zu formen. Zu tief sind die Gräben zwischen den verschiedenen Volks- und Glaubensgruppen, zu stark der Fanatismus der Islamisten an der Macht. Verstärkt sich der zu erwartende Druck durch den Iran sowie der Frust der Kurden im Nordosten des Landes – und erstarkt die Terrormiliz „Islamischer Staat (IS)“ weiterhin, droht Syrien ein weiterer Bürgerkrieg. Noch finden vor allem aus dem Libanon und der Türkei starke Rückkehrbewegungen statt. Ob das so weitergeht, hängt von der Entwicklung in Syrien ab. Wie und wohin die syrischen Alawiten fliehen, wenn sie können, ist derzeit noch unklar.
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