Mit Familiennachzug ist gemeint, dass anerkannte Geflüchtete auch in Sachen Familie EU-Bürgern und Österreichern gleichgestellt sind; auch sie haben ein Recht darauf, ihr Leben mit ihrer Familie zu verbringen - sie dürfen Ehepartner und Kinder „nachholen“, wenn ihr Schutzstatus fix ist.
Dem halten Regierung und Verwaltung folgendes entgegen: Allein im Vorjahr gab es 7.760 Einreisen unter dem Titel des Familiennachzugs. Und weil ein großer Teil davon Kinder waren, sei ein Problem immanent: Das Bildungssystem wird nachhaltig überfordert.
Soweit, so schlüssig.
Allerdings kann Österreich den Familiennachzug nur dann aussetzen, wenn triftige Gründe vorliegen und man eine Notlage geltend macht.
Genau das will das Innenministerium nun tun. Und zwar gemäß Artikel 72 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU, in dem sinngemäß steht, dass das letzte Wort bei der inneren Sicherheit und öffentlichen Ordnung immer die Mitgliedsstaaten selbst haben.
Vereinfacht gesagt, erklärt Österreich also einen Notstand – und setzt damit den Familiennachzug aus.
Das klingt juristisch und rechtlich logisch, hat aber einige Tücken.
Da ist zunächst einmal die grundsätzliche Frage des Notstandes: Damit EU-Mitgliedsstaaten nicht ständig mit dem Verweis auf einen echten oder vermeintlichen Notstand EU-Recht aussetzen, ist die Definition vergleichsweise streng.
So kennt die Union beispielsweise keinen regionalen oder föderalen Notstand, der Artikel 72 rechtfertigt.
Warum ist das wichtig?
Österreich müsste argumentieren können, dass der Familiennachzug flächendeckend, also im gesamten Bundesgebiet, eine Notlage verursacht.
Abgesehen davon, dass die Überforderung der Bildungseinrichtungen vor allem in Ballungsräumen zu beobachten ist, nähren die Zahlen diese Darstellung nur bedingt.
Seit vielen Monaten ist die Zahl der Einreiseanträge stark rückläufig.
Das liegt unter anderem am Umsturz in Syrien. Aufgrund des Regimewechsels liegen Einreiseanträge von dort grundsätzlich auf Eis.
„Es ist keine gesamtstaatliche Notlage erkennbar“, sagt Lukas Gahleitner-Gertz, der Sprecher der Asylkoordination zum KURIER. Selbst wenn man rechtlich eine Grundlage für den Notstand argumentiere, fehle die Faktenbasis. „Ein Nicht-Wollen begründet keinen Notstand, Voraussetzung ist ein Nicht-(Mehr)-Können.“
Die Wiener SPÖ hat der Innenminister jedenfalls hinter sich. Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) zeigte sich heute einigermaßen zufrieden über den Vorstoß. „Wir sind als Stadt in den letzten Jahren aus besonderen Gründen betroffen gewesen, sicher auch, weil wir die einzige wirkliche Großstadt in Österreich sind."
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