Wie der Familiennachzug Pflichtschulen und Lehrer in Wien überfordert

Stimmen die Prognosen, werden in Wien jeden Monat 14 neue Klassen aufgemacht – nicht nur für Lehrkräfte eine enorme Herausforderung.
Thomas Krebs führt derzeit viele Beratungsgespräche. Und was er dabei hört, macht den Wiener Pflichtschulgewerkschafter nicht glücklich: „Gestandene Lehrerinnen, die zwanzig Jahre in der Klasse stehen und ihre Arbeit eigentlich gerne machen, sagen mir: Sie können nicht mehr und wollen kündigen.“
Was den Lehrkräften jetzt zusätzlich zu schaffen macht: „Durch den Familiennachzug kommen immer mehr Kinder nach Wien. Das belastet das System so sehr, dass ein qualitätsvoller Unterricht kaum mehr möglich ist. Was in den Klassenzimmern passiert, hat oft nichts mehr mit unserem eigenen Beruf zu tun, denn vielen Kindern fehlen die Voraussetzungen, die es für einen Schulbesuch braucht.“
So drohe das Niveau im Unterricht dermaßen zu sinken, dass es niemandem etwas bringt – weder den Geflüchteten, noch den Kindern, die schon länger in Wien sind.
Hintergrund: Rund 300 Kinder werden jeden Monat neu nach Wien kommen, so die Prognosen. Das sind 14 Klassen – am Ende des Schuljahres also 140 Klassen. Und das in einer Stadt, in der der Schulraum eh schon knapp ist, Lehrermangel herrscht und schon im vergangenen Jahr 4.000 neue Schüler aufgenommen wurden.
Politik solle Familiennachzug überdenken
Krebs plädiert dafür, dass man endlich ohne Tabus über die Probleme diskutiert. Die Politik müsse aktiv werden und den Familiennachzug überdenken: „Wir schaffen das nicht mehr. Wir können nur das bewältigen, wofür wir die Ressourcen haben – und die sind endlich“, warnt er.
Außerordentlich: In den Volksschulen ist der Anteil der außerordentlichen Schüler derzeit besonders hoch. Diese Kinder können aufgrund ihrer mangelhaften Deutschkenntnisse dem Unterricht nicht ausreichend folgen.
4.000 ukrainische Kinder mussten ab Februar 2022 in Wiens Schulen integriert werden. Aktuell kommen jeden Monat wiederum rund 300 neue Kinder und Jugendliche dazu, die meisten stammen aus Syrien. Viele von ihnen sind jedoch kaum alphabetisiert.
„Insbesondere die syrischen Kinder, die aus Flüchtlingslagern zu uns kommen, sind eine Herausforderung für das System. Viele sind traumatisiert und oft noch nicht einmal auf Arabisch alphabetisiert.“
Orientierungsklassen helfen nur bedingt
Derzeit gebe es zwar sogenannte Orientierungsklassen, in denen Kinder und Jugendliche in acht Wochen fit für die Schule gemacht werden sollen: „Die Lehrperson und die Arabisch-Lehrkraft in diesen Klassen fehlen andernorts. Man stopft so ein Loch und macht gleichzeitig ein anderes auf“, stellt Krebs fest.
Doch die Kinder sind jetzt da – und für sie braucht es Konzepte. Was wäre also zu tun?
„Sicher wäre mehr Zeit im Kindergarten, in der die Kinder Grundlegendes nicht nur in der Sprache lernen, hilfreich“, so Krebs. Aber auch dort fehlen die Ressourcen, also Platz und Personal.
Weiterer Vorschlag des Gewerkschafters: „Wir müssen mehr in außerschulische Aktivitäten stecken.“
In einer gelenkten unterrichtsfreien Zeit sollten die jungen Menschen etwa die Sprache lernen und auch Verhaltensweisen erwerben, die für die Schule wichtig sind, z. B. wie man Konflikte friedlich austrägt. Auch sollten die Kinder und Jugendlichen erfahren, wie man seine Freizeit sinnvoll gestaltet: „Das beugt aggressivem Verhalten vor“, weiß Krebs.
2.400 neue Lehrer eingestellt
In der Wiener Bildungsdirektion verweist man darauf, dass man dauernd neue Lehrpersonen einstelle. So seien im laufenden Schuljahr 2.400 Lehrpersonen angestellt worden – 1.400 davon im Pflichtschulbereich.
Bildungsdirektor Heinrich Himmer ist guter Dinge: „Wir fördern Schülerinnen und Schüler und stellen uns gemeinsam den Herausforderungen, damit Lernen und Zusammenleben gut funktionieren. Ich danke allen, die in den Wiener Schulen so engagiert arbeiten. Die Verantwortung für Integration ist aber eine gesamtösterreichische, wo es Lösungen auf Bundesebene gibt.“