Nie wieder Wien: Zwi Nigal kam doch zurück

Der heute 95-Jährige überlebte die Shoah und erzählte Schülern „seiner“ alten Schule vom Leben in Wien unter dem Nazi-Terror.

Es ist ganz still, als Zwi Nigal den Raum betritt. Knapp sechzig Schülerinnen und Schüler haben sich versammelt, um seine Geschichte zu hören. Zwi Nigal, geboren am 13. April 1923 in Wien als Hermann Heinz Engel, flüchtet 1939 vor dem Nazi-Regime ins damalige Palästina. Gestern, Donnerstag, sitzt er im Festsaal der AHS Zirkusgasse im zweiten Wiener Gemeindebezirk. In „seiner“ alten Schule. „Ich muss gestehen“, beginnt er seine Geschichte. „Das letzte Mal war ich so aufgeregt vor der Mathematik-Matura.“

20 Überlebende der Shoah erinnern an diesem Tag zeitgleich in Schulen an die Ereignisse von damals. Nigal ist – wie 130 andere Vertriebene – auf Initiative von Kanzler Sebastian Kurz und Bildungsminister Heinz Faßmann in Österreich zu Gast. „Die Zeit ist gekommen, wo die letzten Zeugen der Shoah rar werden“, sagt Faßmann.

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Der 95-jährige Zwi Nigal spricht ohne Umschweife, nahezu mit Understatement. Viele Jahre habe er sich geweigert, in Schulen vorzutragen. „Ich dachte nicht, dass mein Leben besonders ist. Es war ein ganz normales Leben, das typische Leben eines Menschen meines Jahrgangs“, sagt Nigal zu den Achtklässlern. Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Das typische Leben eines in Europa geboren Juden.“ „Ziemlich jüdisch“ sei sein Leben also gewesen.
 

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Nigal entstammt einer jüdischen Wiener Mittelstandsfamilie, wie er sagt. Vater und Großvater Eisenbahner, die Mutter Krankenschwester im Ersten Weltkrieg. „Meine Erziehung war österreichisch, aber auch zionistisch“, sagt Nigal. Die Helden seiner Kindheit demnach Andreas Hofer, Prinz Eugen, Winnetou und Old Shatterhand – aber auch König David und Samson.

Den Schülern erzählt Nigal vom Wien unter dem Nazi-Terror. Wie an dem Haus in der Großen Stadtgutgasse, in dem er wohnte, die roten Hakenkreuz-Fahnen vom Dach bis zum Gehsteig hingen. Wie nach dem „Anschluss 1938“ alle „eine Woche Urlaub“ hatten, auch die Schüler. „Als wir zurück in die Klasse kamen, war das Kruzifix an der Wand weg, stattdessen hing dort ein Hitler-Bild.“

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Nigal erzählt, wie sein Deutschlehrer, den die Klasse schätzte – unter anderem, weil er besonders gute Arbeiten vorzulegen pflegte –, auch nach dem „Anschluss“ noch Hermann Engels Arbeit vortrug. Diesmal mit Nachsatz: „Das einzig Tragische an der Sache ist, dass wieder ein deutsch-fremdes Element die beste Arbeit geschrieben hat.“

Ein Erlebnis habe er ganz besonders in Erinnerung behalten. Es war im Dezember des Jahres 1938, als eine Frau in die Wohnung von Familie Engel kam. Ihr hätte man die Wohnung zugesprochen, habe sie erzählt. Der Vater fand irgendwo ein Zimmer, auf einem kleinen Handwagen transportierte die Familie ihr Hab und Gut durch die Gassen. Der Vater zog, Hermann schob von hinten an. Die Wiener verhöhnten die Familie. "Was ich dabei fühlte? Dafür ist mein Onkel im Ersten Weltkrieg gefallen? Dafür hat mein Vater sein ganzes Leben gedient? Das ist, was man mich Unterrichtet hat, was Heimat ist? Ich habe mir damals gedacht: Niemals wieder Wien. Nie wieder Österreich."

Vom Glück im Unglück

Aber Zwi Nigal erzählt auch vom Glück. Vom Glück, das man damals brauchte, um zu überleben: Als sich zwei HJ-Banden über den jungen Hermann stritten („Des is’ unser Jud“ – „Na, des is’ unser Jud“), gelang ihm die Flucht. Als die Gestapo vor der Tür stand und Engel sie einließ, beanstandeten sie nichts. Als er zu Hitlers Rede auf den Heldenplatz fuhr, blieb er unentdeckt. „Dumm war das“, erzählt er den Schülern. Er hatte Glück.

Hermann Heinz Engel gelang die Flucht nach Israel. Seine Mutter kam fünf Jahre nach ihm. Sein Vater wurde im KZ Auschwitz ermordet.

Am Ende seiner Erzählung lässt Zwi Nigal ein Bild seiner Familie auf die große Leinwand projizieren. Es zeigt seine beiden Söhne, sieben Enkelkinder und vier Urenkel. „Das ist mein persönlicher Sieg über Hitler.“

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