Absturz auf Raten: Der Fall der Großparteien
Sie könnten noch einmal Glück haben. Falls mehrere Kleinparteien an der Einzugshürde ins Parlament scheitern, könnten SPÖ und ÖVP mit geschenkten Mandaten noch einmal eine bequeme Regierungsmehrheit im Nationalrat ergattern.
Doch selbst in diesem günstigen Fall soll sich niemand täuschen: Die Dominanz von SPÖ und ÖVP neigt sich nach sieben Dezennien ihrem Ende zu. Allein die Tatsache, dass die Wahlarithmetik ins Kalkül zu ziehen ist, um auf eine stabile rot-schwarze Mehrheit zu kommen, bedeutet eine Niederlage für Österreichs Staatsparteien.
Und doch zeigt ein Blick in andere europäische Länder, dass das Schrumpfen der großen Parteien nichts Besonderes ist. Außergewöhnlich waren vielmehr die rot-schwarzen Mehrheiten jenseits der 90 Prozent. Pelinka: „Seit den 1980er-Jahren ist Österreich auf dem Weg zur europäischen Normalität.“
Das deutsche Beispiel – die CDU/CSU wurde mit mehr als vierzig Prozent bestätigt – ist kein Gegenbeweis, sondern nur die Ausnahme vom europäischen Regelfall. „In Deutschland gibt es rechts von der CDU/CSU nichts. Es gibt anders als in den meisten europäischen Ländern keinen Rechtspopulismus. Das ist aus der deutschen Geschichte heraus erklärbar“, sagt Pelinka. Nazi-Nachfolgeparteien wie die FPÖ – sie wurde von ehemaligen Nationalsozialisten gegründet – seien in Deutschland nie in die Nähe einer Regierungsverantwortung aufgerückt.
Binnen kurzer Zeit sind die Beschäftigten in der Landwirtschaft von zwanzig auf vier Prozent geschrumpft, und die gewerkschaftlich gut organisierten Arbeiter wurden durch oft grün-affine Angestellte verdrängt.
Dieser gesellschaftliche Wandel bringt die Traditionsparteien in die Zwickmühle. Pelinka: „Nirgends in Europa gelingt es der Sozialdemokratie, die Differenzierung in der Arbeitnehmerschaft aufzufangen: es gelingt der SPD nicht, es gelingt Labour nicht, und in Frankreich werden die Sozialisten oft spöttisch als ,Lehrer-Partei‘ bezeichnet.“
Auch die ÖVP laboriere an „Janusköpfigkeit“: Sie predigt Leistung und Marktwirtschaft, vertritt aber die mit Subventionen durch die Marktwirtschaft getragenen Landwirte und die Beamten. Augenfällig wurde die „Janusköpfigkeit“ der ÖVP im aktuellen Wahlkampf: Die Beschäftigten in der Privatwirtschaft sollen nach ihren Vorstellungen zwölf Stunden am Tag arbeiten, den Lehrern wollte sie 24 Stunden in der Woche nicht zumuten.
Gespannt ist Pelinka, ob bei dieser Wahl eine weitere Besonderheit europäisch „normalisiert“ wird: „In Österreich gab es nie ein marktliberales Bürgertum, das sich politisch Gehör verschaffte.“ Ein Einzug der Neos in den Nationalrat würde diese politische Lücke füllen.
Der KURIER hat auf Basis der Wahlresultate seit 1983 den Niedergang von Rot-Schwarz und das Ansteigen der übrigen Parlamentsparteien extrapoliert (siehe Grafik unten). Dabei kreuzen sich die beiden Linien etwa 2015. „Eine realistische Extrapolation, insbesondere weil die Zusammenarbeit von SPÖ und ÖVP in der großen Koalition das Schrumpfen der beiden Parteien verstärkt“, so Pelinka.
Aber was kommt nach Rot-Schwarz?
Auf Österreich komme eine Phase des Experimentierens zu – mit Dreierkoalitionen oder Minderheitsregierungen, meint Pelinka. Nach einigen Jahren der Experimente könnten Wähler und Politiker auch davon genug haben. Ein Ausweg wären dann Wahlbündnisse links und rechts der Mitte wie in Italien, um wieder mehrheitsfähig zu werden.
Ist der Prozess der Zersplitterung des Parteiensystems unumkehrbar? Pelinka glaubt: Ja. SPÖ und ÖVP hätten Ende der 1970er-Jahre verabsäumt, ein Mehrheitswahlrecht einzuführen, um wie in Großbritannien abwechselnd zu regieren.
Bei der zu erwartenden Neuauflage der großen Koalition sollten SPÖ und ÖVP entweder eine dritte Partei oder einen unabhängigen Kapazunder als Minister in die Regierung holen. Pelinka: „SPÖ und ÖVP sollten wenigstens den Anschein von Innovationskraft erwecken.“ Sonst könnte es in der Tat die letzte große Koalition werden.
Die Arbeitsbilanz von Rot-Schwarz fällt gemischt aus. Die niedrigste Arbeitslosigkeit in der EU, ein höheres Wachstum als im EU-Durchschnitt und ein vergleichsweise hoher Wohlstand stehen auf der Positivseite. Nicht zu übersehen sind jedoch der Reformstillstand in wichtigen Zukunftsbereichen und ein schleichender Verlust an Wettbewerbsfähigkeit und Standortqualität: Immer öfter hört man daher: „Noch geht es uns gut.“ Mit Betonung auf „noch“.
Die vorgezogene Steuerreform 2009, dann Spar- und Konjunkturpakete samt Ausbau der Kurzarbeit und die relativ rasche Erholung der Exportwirtschaft dank der Zugkraft des wichtigsten Handelspartners Deutschland, konnten Massenarbeitslosigkeit und -proteste wie anderswo in Europa verhindern. Im Großen und Ganzen blieb das Land also auf Kurs. Viele Reformversprechen blieben freilich auf der Strecke.
Experten nennen die Bildungsreform und eine Steuerstrukturreform zur Entlastung unterer Einkommensschichten als vorrangig für die nächste Legislaturperiode.
Auch im Verwaltungsbereich besteht aufgrund des Spardrucks Hoffnung, dass Reformschritte gelingen . Zuletzt hat dazu die SPÖ einige Vorschläge präsentiert. Einigkeit besteht derzeit über eine Verringerung der Ministerposten. Ob mehr als Symbolik gelingt, bleibt abzuwarten. Ein Beispiel: Ein einheitliches Beamtendienstrecht wurde schon im Regierungsprogramm 2008 versprochen, bisher ist nicht einmal ein einheitliches Lehrerdienstrecht geglückt.
Große Bremskraft hat hier die Gewerkschaft für den öffentlichen Dienst, andere Reformen scheiterten am Widerstand der Länder: die Modernisierung der Schulverwaltung, einheitliche Budgetregeln nach dem Muster der Haushaltsrechtsreform des Bundes oder einheitliche Regeln vom Jugendschutz bis zu den neun Bauordnungen.
Doch die To-do-Liste für die nächste Regierung ist noch länger. Sie reicht von einer möglichst budgetschonenden Lösung für die Hypo Alpe-Adria, über den Kampf gegen Korruption (U-Ausschuss als Recht der parlamentarischen Minderheit) bis hin zur Heeresreform, Integrationsfragen oder Umweltschutz. Auch die Arbeit an der weiteren Vertiefung der Eurozone – Stichwort Bankenunion, Fiskalpakt – wird Kräfte binden. Und, vor allem: Viele dieser Themen sind völlig unabhängig davon zu behandeln, wer genau der nächsten Regierung angehört.
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