Ziemlich genau hundert Tage ist es her, dass Wolfgang Mückstein das Gesundheitsministerium von Rudolf Anschober übernahm. In dieser Zeit war der Impffortschritt beachtlich, doch nun tun sich neue Problemfelder auf.
KURIER: Im April wechselten Sie von Ihrer Praxis ins Gesundheitsministerium: Was mussten Sie neu lernen?
Wolfgang Mückstein: Es war eine Zeit, in der es wenig Pausen gab. Ich habe gelernt, dass es viel Abstimmung benötigt und viele Interessen zu beachten sind. Man stellt sich vor, als Gesundheitsminister macht man eine Verordnung, und dann ist das so. Aber in einer Bundesregierung stimmt das natürlich nicht, da erfordern wichtige Verordnungen viele Gespräche mit Kanzler, Vizekanzler und den anderen Ministerien.
Mussten Sie, wie bei Amtsantritt angekündigt, unpopuläre Entscheidungen treffen?
Ich habe in den ersten 90 Tage öffnen können, was natürlich angenehmer ist. Jetzt sind die Zahlen unerwartet raufgegangen, und es ist Zeit, an kleinen Schrauben zu drehen. Ich glaube, das ist vertretbar und zumutbar. Wenn der Zug einmal sehr schnell fährt, ist es schwierig und erfordert sehr harte Maßnahmen, um ihn wieder zu bremsen. Jetzt fährt er erst langsam an. Aber wir haben den Beginn der vierten Welle, das ist so, und das lässt sich nicht aufhalten. Wir sind aber nicht Beifahrer, sondern sitzen am Steuer. Wir werden jetzt evidenzbasiert Maßnahmen setzen, um die Infektionskurve in die Länge zu ziehen.
Müssen Sie diese unerfreulichen Entscheidungen treffen, während die ÖVP auf Eigenverantwortung setzt und erklärt, für Geimpfte sei die Pandemie vorbei?
Selbstverantwortung und politische Verantwortung schließen einander nicht aus. Aber die Politik kann sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Wir haben drei Lockdowns hinter uns. Wenn da manche in der Wirtschaft sagen, es ist eine Unzumutbarkeit 3 G zu kontrollieren, dann frage ich mich, was ist denn zumutbar? Ich mag auch keine Masken, aber einen weiteren Lockdown würde ich auch nicht haben wollen. Jetzt gehen die Zahlen rauf. Wenn wir Pech haben, sind wir Anfang August bei einer 7-Tages-Inzidenz von über 75, dann gelten wir in Kombination mit der dominierenden Delta-Variante als Varianten-Gebiet. Dann ist Schluss mit Tourismus.
Droht wieder ein Lockdown?
Wir müssen alles daran setzen, die Öffnungsschritte, die wir uns erarbeitet haben, zu verteidigen. Vor einem Jahr, als die Kurve sanft angestiegen ist, hat man gesagt, das wird schon. Das werde ich anders machen diesmal. Ich bin Arzt, kein Zocker. Ich bin lieber vorsichtig. Wenn gleichzeitig so viele 20-Jährige ins Spital kommen, weil sie sich so schnell durchseuchen, haben wir ein Problem auf den Intensivstationen. Deswegen führen wir ein Sicherheitsnetz in der Nachtgastronomie ein.
Experten sagen, wir werden die nötige Durchimpfungsrate von 85 Prozent bis Herbst nicht erreichen. Schon 70 Prozent könnten schwierig werden. Braucht es doch eine Impfpflicht?
Ich bin gegen eine allgemeine Impfpflicht. Wir können nur versuchen, die Leute zu motivieren, in ihrer Muttersprache aufzuklären und Werbekampagnen zu machen. Wenn wir so viel impfen wie im Juni, sind wir im September bei 85 Prozent. Wenn wir nur die Hälfte impfen, dann schaffen wir nur 70.
Andere Länder wie Frankreich haben eine Impfpflicht für Spitals- und Pflegemitarbeiter eingeführt. Warum nicht auch Österreich?
Ich bin dafür. Es ist nicht zu vertreten, dass im Krankenhaus oder in Pflegeheimen ungeimpftes Personal arbeitet. Aber das liegt bei den Arbeitgebern. Das müssen und können die Träger entscheiden.
Gibt hier der Bund eine unangenehme Entscheidung an die Länder ab?
Ich sage, ich würde das machen. Warum soll man jetzt eine bundesweite Regelung beschließen, wenn die Länder das machen können?
Die Länder fordern konkrete Pläne für eine dritte Impfrunde im Herbst.
Wir müssen erst ab November ein drittes Mal impfen. Wir haben jetzt unmittelbar kein Problem. Ältere und chronisch Kranke müssen wir vielleicht schon früher impfen, die Experten sehen sich das gerade an. Grundsätzlich ist der Plan, Impfungen in den niedergelassenen Bereich auszulagern.
Zurück zum Thema Pflegekräfte. Wieso ist die Pflegereform noch nicht durch?
Wir sind aktuell in Verhandlungen mit den Ländern und dem Koalitionspartner, welche Teile wir vorziehen. Im Herbst kann es erste Schritte dazu geben. Wir sind uns jedenfalls einig, dass wir den Pflegeberuf attraktivieren müssen.
Bis 2030 brauchen wir rund 80.000 Pflegekräfte mehr. Sollten wir sie aus dem Ausland holen?
Oberstes Ziel muss es sein, Pflegekräfte zu halten - deshalb braucht es eine Attraktivierung von Ausbildung und Beruf. Zudem sollte man die Anerkennung der Ausbildung von Pflegekräften, die schon in Österreich sind, beschleunigen. Wir können aber nicht eine Pflegeplanung nachhaltig darauf aufbauen, anderen Ländern Pflegepersonal abzuziehen.
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