Analyse: Mitterlehners Neuwahl-Story hält nicht
Was ist nun von Mitterlehners Buch zu halten? Er schildert zwar Details aus dem Innersten der ÖVP, aber jeder Zeitungsleser, der 2016/2017 aufmerksam die Berichterstattung verfolgte, hat ein vollständigeres Bild, als in dem Buch geschildert.
Bei der zentralen Frage nach der Neuwahl blendet Mitterlehner aus, dass der damals frisch gebackene SPÖ-Kanzler Christian Kern ebenfalls auf dem Absprung war, sich aber letztlich nicht traute bzw. von der Gewerkschaft gehindert wurde. Auch die ÖVP-Bundesländer, die im Frühjahr 2018 zu wählen hatten, wollten die Nationalratswahl vorverlegen, um nicht die Watschen für die rot-schwarze Stillstandskoalition zu kassieren. Immerhin hatten 2016 die Präsidentschaftskandidaten von Rot und Schwarz jeweils nur mehr elf Prozent nach Hause gebracht. Dieser Schock saß.
Der Stillstand der rot-schwarzen Koalition begann nicht erst mit dem Sprengmeister Wolfgang Sobotka, wie Mitterlehner das darstellt, Sobotka wurde nämlich erst 2016 Innenminister. Die ganze Neuauflage von Rot-Schwarz ab dem Jahr 2006 war mehr oder weniger eine Quälerei, sie führte ja auch 2008 erstmals zum Bruch. Der rot-schwarze Koalitionspakt 2013 war mangels Gemeinsamkeiten der beiden Parteien inhaltlich derartig dünn, dass die damalige Innenministerin Johanna Mikl-Leitner aus Frust aussteigen wollte.
Rückblickend gesehen war die Vorverlegung der Nationalratswahl von Herbst 2018 auf 2017 richtig – und zwar wegen Österreichs EU-Präsidentschaft. Regulär wären Nationalratswahl und Regierungsbildung mitten ins Brexit-Chaos, in EU-Budgetverhandlungen und in die Frontex-Thematik gefallen. Auch die SPÖ wollte wegen des EU-Vorsitzes früher den Nationalrat wählen, gemeinsam mit den Landtagswahlen im Frühjahr 2018.
In Wahrheit waren damals beide Parteien bis auf die Zähne für Neuwahlen bewaffnet und warteten nur drauf, wer zuerst den Colt zog.
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