Merkel und Seehofer: "Machtkampf wird wieder ausbrechen"
„Was, wenn es Neuwahlen gibt? Ne, bestimmt nicht, das krieg't se nich hin.“ Was gestern ein paar Arbeiter beim Imbiss diskutierten, beschäftigte am Montag auch das politische Berlin. Die Sorge, dass die Koalition in Brüche geht, ist durchaus berechtigt, wirft man einen Blick zurück auf die vergangenen Tage: der Streit um die Asylpolitik in der Union ist nahezu eskaliert.
Gestern, Montag, wirkten die Köpfe etwas abgekühlt. CDU und CSU einigten sich auf eine zweiwöchige Frist. Die Kanzlerin soll Zeit haben, eine europäische Lösung für die Rückweisung von Asylbewerbern zu finden bzw. mit anderen EU-Staaten bilaterale Abkommen abzuschließen.
„Kein Automatismus“
Den Eindruck eines zweiten Ultimatums wollte Angela Merkel bei ihrer gestrigen Pressekonferenz vermeiden. Für eine Zurückweisung von Flüchtlingen gibt es „keinen Automatismus“ – auch nicht ab 1. Juli. „Wir werden die Ergebnisse bewerten und dann schauen, wo wir stehen.“ Und überhaupt ist es auch eine "Frage der Richtlinienkompetenz", in anderen Staaten registrierte Flüchtlinge zurückzuweisen, sagte Merkel und setzte damit einen klaren Warnschuss an Seehofer ab. Sie habe noch immer das Zepter in der Hand, so die Botschaft.
Ortswechsel nach München: Fast zeitgleich hielt der Innenminister und CSU-Chef dort Hof. So zufrieden sah er schon lange nicht mehr aus, er lächelte und ließ den papiergewordenen Beschluss des CSU-Vorstands verteilen. Was darin zu lesen ist: Ausländer, die eine Einreisesperre oder ein Aufenthaltsverbot in Deutschland haben, will er ab sofort nicht mehr einreisen lassen. Kommt bis zum 1. Juli keine Einigung zustande, will er das Einreiseverbot ausweiten. Aber davor noch mit der Kanzlerin reden – das sei „eine Frage des Anstandes“, erklärte Seehofer. Selbst über die Interpretation der Einigung gibt es also unterschiedliche Auffassungen.
Von der Kanzlerin erwarte er sich jedenfalls eine Lösung, die „wirkungsgleich“ zu seinen Forderungen ist – und genau das bzw. die Frage, was denn „wirkungsgleich“ ist, könnte dann den nächsten Streit auslösen, meint Politologe Martin von der Universität München im Gespräch mit dem KURIER. „Der Machtkampf wird in zwei Wochen wieder aufbrechen“, erklärt der Experte.
Der Schaden ist für beide Parteien jetzt schon enorm, so Gross. „Es stellt sich überhaupt die Frage, ob man da noch von einer Koalition sprechen kann. Eigentlich ist es eine Koalition aus CDU und SPD.“ Es waren bisher auch die Sozialdemokraten, die der Kanzlerin Rückendeckung gaben, gestern gar die europäische Flagge am Willy-Brandt-Haus hissten. Langsam werden sie aber auch nervös, im Streit der Union übergangen zu werden. So verlangte SPD-Chefin Nahles heute auch die Einberufung eines Koalitionsausschusses noch vor dem EU-Gipfel, drohte auch damit, dass eine Kompromisslösung oder ein Durchsetzen Seehofers von der SPD blockiert werden könnte. „Ich kann deswegen nur sagen, dass eine Einigung zwischen CDU und CSU keinen Automatismus für die Zustimmung der SPD bedeutet.“ Es gehe um eine humanitäre europäische Lösung und um das „Wie“ der Abweisung. Klar, auch die SPD hat eine Wahl in Bayern zu gewinnen bzw. zu verlieren, die Wähler könnten ihnen dann die Rechnung präsentieren und zu den Grünen überlaufen.
AfD profitiert
So vertrackt die Lage für alle Beteiligten derzeit auch wirken mag, so unwahrscheinlich ist es, dass die Koalition abrupt einbricht, meint Experte Gross. Auch die Fraktionsgemeinschaft sieht er noch nicht am Ende, "weil beide wissen, dass sie nur als Schwesternparteien stark genug sind."
Die Debatte über die Flüchtlingspolitik könnte sich über den Sommer ziehen und dann hängt vieles vom Ergebnis der bayerischen Landtagswahl ab. Der aktuelle Streit mit Merkel werde der CSU jedenfalls nicht nützen, ist der Politologe überzeugt. Wer davon definitiv profitiert: die AfD. „Sie hat wieder nichts gemacht, sondern die anderen Parteien haben es geschafft, dass es wieder nur um Flüchtlinge, Asylpolitik und Migration geht, denn das ist DAS Thema der AfD.“ Was sie laut Gross ebenfalls geschafft hat: Dass Teile der CSU, auch befeuert von FDP-Chef Christian Lindner, ihre "Merkel-muss-weg"-Denke übernommen haben und immer stärker nach außen tragen.
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