Mehr als 13.000 Nachfahren von NS-Opfern wünschen sich die österreichische Staatsbürgerschaft
Wienerin sei sie immer gewesen, sagt Evelyn Konrad und schmunzelt. „Und jetzt auch Österreicherin“, hält die 92-Jährige im österreichischen Generalkonsulat in New York fest. Sie ist mit 11 Jahren vor dem Nazi-Regime aus Wien über Lissabon in die USA geflohen.
Mitte Juli überreichte Bundeskanzler Sebastian Kurz Evelyn Konrad und fünf Nachfahren von NS-Verfolgten den österreichischen Pass in New York.
Seit 1. September 2020 ist es Nachfahren von NS-Verfolgten möglich, die österreichische Staatsbürgerschaft durch „Anzeige“ zu erhalten. Die Anträge auf Staatsbürgerschaft werden „Anzeige“ genannt, weil man nicht das Bild eines Bittstellers im Kontext von NS-Opfern schaffen möchte.
Historische Verantwortung Österreichs
Einer Schätzung des Außenministeriums zufolge gibt es rund 100.000 Menschen weltweit, die Nachfahren von österreichischen NS-Verfolgten sind. In den meisten Fällen befinden sich die Kinder, Enkel oder Urenkel von den einst Verfolgten im Ausland. Die meisten leben in Israel, Großbritannien, in Nord- oder Südamerika. "Wir können nicht ungeschehen machen, welche Verbrechen in der NS-Zeit begangen wurden", betont Kanzler Kurz die historische Verantwortung Österreichs in New York.
Seit der Novellierung des § 58 des Staatsbürgerschaftsgesetzes gibt es ein reges Interesse an der österreichischen Doppelstaatsbürgerschaft. Eine Anfrage bei der zuständigen Amtsstelle in Wien (MA 35) ergibt, dass mit Stand Ende Juni 13.666 „Anzeigen“ gestellt worden sind.
Wann Anzeigen abgelehnt werden
Mehr als die Hälfte der Verfahren ist bereits positiv abgeschlossen, knapp 2.500 österreichische Staatsbürgerschaften wurden ausgestellt. Von allen „Anzeigen“ sind 1 Prozent negativ beschieden (138). „Wir mussten leider auch Fälle ablehnen, besonders wenn kein Verfolgungsgrund, kein Hauptwohnsitz in Österreich oder keine Staatsbürgerschaft nachweisbar war“, erklärt Karin Jakubowicz von der MA 35. Ein weiterer Ablehnungsgrund war die fehlende Abstammung vom NS-Verfolgten.
Als NS-Verfolgte nach dem § 58c Abs. 1a StbG gilt „jene Person, die sich als österreichischer Staatsbürger oder als Staatsangehöriger eines der Nachfolgestaaten der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie oder Staatenloser jeweils mit Hauptwohnsitz im Bundesgebiet vor dem 15. Mai 1955 in das Ausland begeben hat, weil sie Verfolgungen durch Organe der NSDAP oder der Behörden des Dritten Reiches mit Grund zu befürchten hatte oder erlitten hatte oder weil sie wegen ihres Eintretens für die demokratische Republik Österreich Verfolgungen ausgesetzt war oder solche zu befürchten hatte“.
Während der NS-Diktatur verfolgte und vertriebene Österreicher haben erst seit 1993 die Möglichkeit, vom Ausland die österreichische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Obwohl sie ihnen einst genommen wurde.
50-köpfiges Team für Recherche
„Wir haben versucht, den bürokratischen Prozess so unkompliziert wie möglich zu halten“, sagt Sven Wagner vom österreichischen Außenministerium, der den Kanzler in den USA begleitet hat. Um Betroffene von dieser Möglichkeit zu informieren, hat das Außenministerium mit der Israelitischen Kultusgemeinde, dem österreichischen Nationalfonds und dem Innenministerium zusammengearbeitet. Informationsveranstaltungen hat es in verschiedenen Städten gegeben, etwa in London und Tel Aviv.
„Kritisiert wurde vereinzelt, dass durch die erforderliche Beglaubigung von Dokumenten Gebühren anfallen oder dass sich Covid-bedingt längere Bearbeitungszeiten ergaben“, sagt Michael Zimmermann, Botschafter Österreichs im Vereinigten Königreich. Und: „Die Rückmeldungen waren und sind aber weitestgehend positiv, und in vielen Fällen berührend.“Von den Betroffenen selbst wird nicht verlangt, Archive aufzusuchen oder historische Dokumente zu sammeln. Die Stadt Wien und die Israelitische Kultusgemeinde beginnen nach einer „Anzeige“ Recherchen in den Archiven, sagt Karin Jakubowicz. Dafür wurde eigens ein 50-köpfiges Team in der Stadt Wien eingerichtet, die aus Juristen und Historikern besteht. Menschen, die die „Anzeige“ einbringen, bringen in der Regel aber auch Dokumente ein. Beweisen müssen sie, dass sie mit dem NS-Verfolgten verwandt sind.
IKG-Präsident Deutsch: "Es hat viel zu lange gedauert"
Sowohl im In- als auch im Ausland sei die Resonanz positiv, sagt Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Österreich. Dennoch könne hier nicht von einem Geschenk gesprochen werden. „Es hat zwar viel zu lange gedauert. Aber mit dem neuen Gesetz beweist Österreich Verantwortungsbewusstsein. Bei den neuen Staatsbürgerschaften handelt es sich ja um eine Art Restitution“, sagt Deutsch.
Die Neo-Österreicherin Evelyn Konrad sieht das ähnlich. Auf eine Frage von Puls 24, ob sie aufgrund des verursachten Leids Rachegefühle gegenüber Österreich habe, sagt sie über die Geste Österreichs: „Das ist keine Verzeihung, aber eine Versöhnung. Das ist ein großer Unterschied. Und ja, für eine Versöhnung bin ich. Verzeihen kann niemand.“
Autor: Edgar Subak
*Das Kurier-Team hat am 26.07.2021 um 9:45 die Bildunterschriften aktualisiert.
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