Lernen, Geschichten zu erzählen

Die Schülerinnen Karlotta (l) und Leonie stehen am Montag (10.09.2012) in Freiburg an der Straße vor einem vorbeifahrenden Auto. Am Montag beginnt in Baden-Württemberg für rund 1,2 Millionen Schüler wieder die Schule. Foto: Patrick Seeger dpa/lsw +++(c) dpa - Bildfunk+++
Sprachforscher begrüßen die Idee, Kindern möglichst früh die deutsche Sprache beizubringen

Jeder fünfte Schüler in Österreich spricht zu Hause nicht Deutsch. In Wien ist es laut Statistik Austria sogar jeder zweite. Viele Kinder tun sich deshalb von Anfang an schwer, dem Unterricht zu folgen. Dieses Defizit schleppen sie oft ihre ganze Schullaufbahn mit sich.

Das Problem ist nicht neu. Doch die Politik hat lange Zeit die Augen davor verschlossen. In Wien hat jetzt Stadtschulratspräsidentin Susanne Brandsteidl reagiert: „Wer bei der Schuleinschreibung nicht ausreichend Deutsch kann, muss ein Jahr in eine Vorschulklasse.“

Integrationsstaatssekretär Sebastian Kurz (VP) hat diesen Vorschlag aufgegriffen und will eine Gesetzesänderung bewirken. Danach sollten Kinder erst eingeschult werden, wenn sie die deutsche Sprache beherrschen. Bildungsministerin Claudia Schmied (SP) will differenziertere Lösungen: „Wir brauchen auf den Standort abgestimmte Konzepte.“

Wissenschaftler können der Idee der Vorschule durchaus etwas abgewinnen. Der Entwicklungspsychologe Alfred Schabmann von der Uni Wien meint, dass „es nicht ausreicht, wenn Migranten nur mit Deutsch sprechenden Kindern zusammen sind. Sie müssen angeleitet werden, die Sprache zu lernen. Und sie müssen sie im Alltag und in der Schule anwenden.“

Eine Lösung, die allen gerecht wird, gebe es allerdings nicht: „Die Schüler kommen aus unterschiedlichen Kulturkreisen, manche aus Krisengebieten. Sie haben unterschiedliche Bedürfnisse“, sagt Schabmann. Eines dürfe aber keinesfalls passieren: „Nach dem Vorschuljahr darf die Förderung nicht aufhören. Die Kinder müssen bis in die Unterstufe unterstützt werden.“

Märchen erzählen

Der Linguist Ralf Vollmann von der Uni Graz weiß, dass „das Lernen einer Zweitsprache bei jedem Kind anders verläuft. Es hängt stark davon ab, welchen sozialen Hintergrund es hat. Ein Kind kommt nur dann in der Schule gut zurecht, wenn es die Literatensprache beherrscht, wie wir Linguisten das nennen.“

Was das bedeutet? „Ein Kind muss mehr können als sich nur über sein Spielzeug zu unterhalten. Es muss in der Lage sein, eine Geschichte zu erzählen. Das heißt, es muss eine Situation, einen Ort und eine Handlung beschreiben und eine Schlussfolgerung ziehen. Das lernen die Kleinsten meist, indem sie Märchen erzählt bekommen und diese wiederholen.“ In manchen Kulturen wird das von den Kindern gar nicht erwartet. „Denen hilft ein Vorschuljahr sicher. Aber auch ein paar Jahre im Kindergarten machen die Kinder fit – falls die Pädagogen diese literarische Sprache vermitteln.“

Warum also nicht zwei verpflichtende Kindergartenjahre? Für Wiens Bürgermeister Michael Häupl wäre das eine Option. Auch Ministerin Schmied kann sich das vorstellen. Bleibt nur die Frage, wer dieses zusätzliche Jahr dann finanziert.

Späte Schüler

Dass man auch in späten Jahren noch Deutsch lernen kann, zeigt die Geschichte von Dáša. Sie kam als Maturantin mit 19 von Bratislava nach Österreich. „Ich hatte zwar in der Schule Deutschunterricht, aber ich habe am Anfang nicht alles verstanden. Die Wiener sprechen sehr schnell und manchmal undeutlich.“ Als sie in einer Besprechung – sie arbeitete neben dem Studium als Krankenschwester – den Ausdruck „verschwitzte Strümpfe“ nicht verstand, machte sich eine Kollegin über sie lustig. Die ehrgeizige und sprachbegabte Slowakin ließ sich nicht unterkriegen. Heute werkt sie als medizinische Forschungsassistentin in Wien. „Ich hab mir jedes Wort, das ich in der Arbeit nicht verstanden habe, aufgeschrieben und nachgeschlagen.“ So habe sich ihr Wortschatz langsam erweitert. Zuhören und selbst sprechen war für sie der beste Weg, sich eine fremde Sprache anzueignen. Das sei jedenfalls besser als gleich am Anfang die im Deutschen besonders komplizierte Grammatik lernen zu müssen.

Die Verkäuferin beim dm lächelt milde. Der Uniformierte am Fahrkartenschalter auf dem Zagreber Hauptbahnhof hat weitaus weniger Geduld mit mir: der Bedienstete knurrt mich an, weil ich mein Ansinnen nicht gleich auf den Punkt zu bringen vermag.

Und die Freunde im Mutterland meiner Frau und Kinder (Kroatien) reden mit mir langsam, laut und deutlich. So, als ob sie es mit einem Kleinkind oder dem Dorftrottel zu tun hätten. Und wenn sie mir ganz Wichtiges mitzuteilen haben, dann versuchen sie es erst gar nicht auf Kroatisch. Dann sagen sie es auf Englisch. Oder meiner Frau.

Ja, verdammt! Es ist wichtig, die Sprache seiner zweiten Heimat zu lernen. Nur so versteht man am Bahnhof nicht nur Bahnhof. Nur so kann man mitlachen, wenn in einer privaten Runde der Schmäh rennt. Und nur so kann man sich – nicht zuletzt – auch im Beruf behaupten.

Doch das ist leichter gesagt als getan. Die Erfahrung, Ausländer zu sein, hat jedenfalls meinen Respekt gegenüber Österreichs Migranten vergrößert. Dabei bin ich in der weitaus besseren Position: Zu mir hat noch nie einer „Tschusch“, „Schwabo“ oder „Lern Kroatisch!“ gebrüllt.

Sie war 14, gut in der Schule, glücklich mit der Welt und ihrer Familie: „Meine Eltern waren Lehrer. Wir waren erst kurz zuvor in ein kleines Haus am Stadtrand von Brčko gezogen.“

Brčko, damals in Jugoslawien, heute in Bosnien. Am 1. Mai 1992 wurde die Brücke über die Save gesprengt. Wenige Tage zuvor war ihre Familie nach Wien gefahren. Wie so viele „nur für ein paar Tage“. Aus den paar Tagen wurde ein Sommer, ein ganzes Jahr. Wurden viele Jahre.

„In Wien war vieles anders“, erinnert sich die Architektin Amila Sirbegović. Die Schule, die Lehrer, die Mitschüler – sie verstand am ersten Schultag nicht viel mehr als „Nachbar in Not“.

Sirbegović ist heute das, was Sozialwissenschaftler gut integriert nennen. In den Sommerferien 1992, als sich unsereins die Sonne auf den Bauch scheinen ließ, hat sie in privaten Kursen Deutsch gelernt. „Meine Eltern wussten nur zu gut, dass die Sprache der Schlüssel zum Glück ist.“ Als Gebietsbetreuerin an der Ottakringer Straße bemüht sie sich heute um mehr gegenseitiges Verständnis.

Sie wurde als Nesthäkchen einer ebenso traditionell wie weltoffen denkenden Arzt-Familie in Teheran geboren. Zu einer Zeit, da der Iran noch von einem Schah und nicht von Religionsführern regiert wurde.

Mit acht kam Nuschin Vossoughi, heute Direktorin des Theaters am Spittelberg, nach Wien. Die ersten Bilder, die sie von ihrer zweiten Heimat hat, sind nicht unbedingt schön: Da war der knietiefe Schnee vor dem verschlossenen Schultor, das für sie für immer verschlossen schien. Und dann war da das nicht bös’ gemeinte und doch kränkende „Schwarzer Teufel“.

„Ich habe verdammt schnell Deutsch gelernt“, sagt Vossoughi. „Um in Wien als Mensch und nicht als Teufel wahrgenommen zu werden.“ Und sie hat damit alles richtig gemacht: „Die Sprache ist der Schlüssel zur Integration. Ich war als Kind innerhalb von einem halben Jahr so weit, habe seither nie wieder Probleme gehabt.“

Die heute in Wien mehr als nur akzeptierte Theaterprinzipalin betont auch, dass ihre Familie sehr dahinter war, dass sie Deutsch lernt.

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