Katholischer Theologe: "Der Islam tritt deutlich vitaler auf“
KURIER: Sie haben kürzlich in einem Kommentar auf communio.de geschrieben: „Antireligiöse Provokationen häufen sich.“ Im Hintergrund steht etwa die Olympia-Eröffnung in Paris, die in Teilen als Persiflage des Abendmahls wahrgenommen wurde; zuletzt sorgte der Fall einer Schweizer Politikerin für Empörung, die auf eine Darstellung Mariens mit dem Jesuskind geschossen hat. Wie erklären Sie sich das und wie soll die Kirche damit umgehen?
Jan-Heiner Tück: Provokation kann ein Instrument der Aufmerksamkeitssteigerung sein – ich glaube, dass es bei der Schweizer Grünen-Politikerin genau darum ging. Wie man damit umgehen soll …
Bevor wir dazu kommen: woher kommt dieser Hang zu antireligiösen, antikatholischen Provokationen? Die Kirchen haben ja ohnehin längst viel an Relevanz und Deutungsmacht eingebüßt …
Auf der einen Seite sind die Kirchen in Westeuropa tatsächlich starken Erosionsprozessen ausgesetzt – gleichzeitig stehen sie aber für hohe Moralstandards und auch für das „Sakrale“. Denken Sie etwa an den Fall Holzinger, wo eine Nonne mit dem Gekreuzigten kopuliert. Da wird natürlich auf gesteigerte Aufmerksamkeit im Kulturbetrieb spekuliert, ohne zu bedenken, dass nicht jede Form von Persiflage schon ein Gütesiegel von Kunst ist. Aber es funktioniert. Das Publikum bei den Wiener Festwochen hat applaudiert. Weil offenbar keiner bereit ist, für das, was für unsere Tradition konstitutiv ist, einzustehen.
Könnte man es auch ins Positive wenden und sagen: immerhin ist offensichtlich die christliche Symbolik und Ikonographie noch so stark, dass man den Reiz verspürt, sich daran abzuarbeiten?
Auf jeden Fall hat zumindest die katholische Kirche einen reichen Schatz an Bildern und Symbolen, die den öffentlichen Raum prägen – auch wenn eine säkulare, plurale Gesellschaft sich immer weniger damit identifizieren kann. Trotzdem steht diese Symbolik offensichtlich für etwas, das provoziert und zu entsprechenden Aktionen führt.
Nun gibt es ein breites Spektrum an möglichen Reaktionen auf solche Provokationen – von Empörung bis „das müssen wir aushalten“. Wie sehen Sie das?
Ich würde meinen, die Kirche muss einen Mittelweg finden zwischen Duckmäuserei und resignativem Schweigen einerseits und Beförderung der Empörungsspirale auf der anderen Seite. Das ist gar nicht so leicht in einer erregungswilligen Gesellschaft mit ihren affektiven Dynamiken, wie wir besonders in den sozialen Medien sehen. Grundsätzlich gehört es zu den Zumutungen einer freien Gesellschaft, dass auf Gefühle frommer Akteure in der Kunst und in anderen Bereichen nicht immer Rücksicht genommen wird. Das muss man ertragen können. Umgekehrt wäre aber auch die Erwartung zu formulieren, das, was anderen heilig ist, nicht unnötig anzutasten, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht zu gefährden. Hier scheinen sich gerade die Grenzen zu verschieben – nicht zuletzt, weil kirchenkritische, antiklerikale Affekte verbreitet sind.
Weil Sie vorhin von „Moralstandards“ gesprochen haben: Werden die denn noch als anstößig oder provokant empfunden – trifft nicht eher das Bild zu von der Latte, die so hoch liegt, dass man bequem darunter durchpariert …?
Der Katholizismus hat immer schon eine elastische Umgangsweise mit seinen Moralstandards gepflegt. Es war immer klar, was die Zehn Gebote sind – aber es war auch klar, dass sie viele immer wieder übertreten; dafür gab es die Beichte als Möglichkeit der Absolution. Vor diesem Hintergrund weist man gerne und genüsslich darauf hin, dass der Klerus und offizielle Vertreter der Kirchen immer wieder selbst an diesen Standards scheitern.
Wie sieht es mit künstlerischen Interventionen aus, die nicht von außen kommen, sondern gleichsam aus dem kirchlichen Raum selbst und die sich als Weiterführung oder Neudeutung der christlichen Tradition verstehen – wie etwa die gebärende Maria oder das Fastentuch von Gottfried Helnwein?
Alle Positionen, die es gesamtgesellschaftlich gibt, gibt es auch innerhalb der Kirche. Das macht es spannend, aber auch kompliziert. Papst Franziskus versucht, eine synodale Gesprächskultur in der Kirche zu implementieren – ich denke, man müsste auch die Frage nach zeitgenössischer Kunst in der Kirche synodal klären. Ich wäre dafür, Expertengremien zu bilden, wo im Vorfeld schon die zu erwartende Rezeption reflektiert wird, damit man nicht überrascht wird und gegebenenfalls bereits installierte Kunstwerke wieder entfernen muss: ein Skandal, der dem Künstler – wie etwa im Fall Helnwein – erst recht zugutekommt. Ich habe diese Idee auch in die Theologische Kommission der Österreichischen Bischofskonferenz eingebracht. Warten wir ab, ob sie umgesetzt wird.
Nun könnte man einwenden, Kunst hat doch immer die Aufgabe zu provozieren …
Natürlich stimmt das, sie lässt sich nicht in dogmatische Denkgerüste einhegen. Aber es stellt sich doch die Frage: muss jede Kunst unbedingt im Kirchenraum platziert werden? Der Kirchenraum ist – zumindest aus gläubiger Sicht – ein Sakralraum, in dem die verborgene Gegenwart Jesu Christi im Tabernakel da ist. Hier wäre es die Aufgabe der Bischöfe, advokativ für einfache Gläubige, die vielleicht kein avanciertes Kunstbewusstsein mitbringen, einzustehen.
Ein zentrales Argument liberaler Kreise lautet: Die Darstellung des Gekreuzigten ist die ultimative Provokation – wenn man einen Hingerichteten zur Schau stellt und zumutet, dann ist etwa der Akt des Gebärens auch zumutbar.
Die Skandalträchtigkeit des Kreuzes verweist auf zentrale Inhalte des christlichen Glaubens. Es ist ein Spiegel der menschlichen Fehlbarkeit; es macht Gewalt sichtbar – alle gegen einen; es wird die Solidarität Christi mit allen Leidenden und Opfern gezeigt; es wird eine Kultur der Vergebung in Erinnerung gerufen und so weiter. Skandalträchtige Gegenwartskunst hat indes keineswegs diese Sinngehalte im Blick, sondern will verstören.
Nun gibt es das christliche Paradoxon, wonach in der Schwäche die eigentliche Stärke liegt. Was heißt das für diese Debatten?
Das Kreuz ist sicherlich auch hier ein Maßstab. Im Zweifel wird man eine Provokation eher ertragen als sich ihr polemisch zu widersetzen. Aber zum Christentum gehört auch eine konfessorische Dimension, und wenn die Substanz des Bekenntnisses berührt wird, dann ist es nicht die Aufgabe, zu schweigen, sondern mit den Mitteln des Wortes dagegenzuhalten. Die Kirchenkrise ist nicht nur eine Klerikerkrise, sie hat auch mit einer gewissen Bezeugungsschwäche der Laien zu tun, die oft schweigen, wenn sie reden sollten.
Stichwort Vitalität des Glaubens: Manche beobachten mit Sorge, dass ein äußerst vitaler, selbstbewusst auftretender Islam immer ängstlicher und vorsichtiger agierenden Kirchen gegenübersteht …
Wenn Muslime ihren Glauben öffentlich praktizieren und dies im Rahmen des Rechtsstaates geschieht, ist das in Ordnung und willkommen. Ich halte es für völlig verfehlt, dschihadistische Attacken auf die gesamte muslimische Community hochzurechnen. Gewiss ist nicht zu leugnen, dass der Islam deutlich vitaler auftritt als die bekenntnismüden Kirchen. Das stellt, erstens, die Frage, wie die Kirchen aus ihrer Krise herauskommen und, zweitens, wie sie mit dem Islam so in Dialog treten können, dass die Tendenz zum Fundamentalismus eingeschränkt wird.
Liegt dem Islam per se schon ein anderes Verständnis des Verhältnisses von Religion und Politik bzw. Gesellschaft zugrunde, welches eine Kompatibilität von Islam und säkularer Demokratie bzw. pluralistischer Gesellschaft erschwert?
Es ist schwierig, Wesensdifferenzen zwischen zwei historisch gewachsenen Religionsgemeinschaften festzumachen. In der Tendenz haben Sie recht: Dem Christentum ist ungeachtet aller Verschleifungen zwischen Kirche und Staat die Unterscheidung von weltlicher und sakraler Sphäre eingeschrieben. Ebendiese Unterscheidung hat den Westen geprägt. Demgegenüber kennt der Islam stärkere Verbindungen von Religion und Politik. Aber ich würde dazu ermutigen, mit Repräsentanten des Islam so ins Gespräch zu kommen, dass sie von sich aus Formen entwickeln, die mit einem pluralistischen Gemeinwesen kompatibel sind. Man kann freilich sagen, dass das ein riskantes Unterfangen ist, weil es nur minoritäre Gruppen sind, die eine solche Öffnung befürworten. Dennoch sehe ich dazu keine Alternative.
Indes bereitet die unübersehbare zunehmende muslimische Präsenz vielen Menschen, darunter wohl nicht wenige Katholiken, Sorge. Nimmt die Kirchenleitung diese Sorge hinreichend ernst?
Es ist sicher zu wenig, wenn sich die Kirchenleitung auf diplomatische Dialogformate mit dem Islam beschränkt. Das bleibt unbefriedigend, wenn nicht auch die Sollbruchstellen klar benannt werden. Hier gibt es Integrationsdefizite, hier gibt es – gerade unter Jugendlichen – Radikalisierungstendenzen, bis hin zu den bekannten Fällen islamistischer Gewalt. Aber dieses Problem kann man nur konstruktiv angehen, wenn man Integrationshilfen anbietet und wenn man nicht die gesamte Community unter Generalverdacht stellt. Dann kommt man in kulturkämpferische Konfliktlagen hinein, welche die Gesellschaft spalten.
Die katholische Kirche befindet sich seit drei Jahren in einem vom Papst initiierten synodalen Prozess. Dieser findet seinen vorläufigen Abschluss in der zur Zeit laufenden Weltsynode in Rom. Sind da nicht Enttäuschungen schon programmiert?
Nur dann, wenn man einen halbierten Reformbegriff zugrundelegt. Der Papst ist aber nicht zufällig gerade noch nach Asien gereist: Er will deutlich machen, dass das Zentrum der Kirche mittlerweile im Globalen Süden liegt. Dort gibt es vitale Formen des Glaubens, dort wächst die Kirche noch schneller als die Gesamtbevölkerung. Dort findet das Votum des Papstes für eine missionarische Kirche mehr Resonanz. Sein Anliegen ist es ja, durch den synodalen Prozess die glaubensmüden Kirchen des Westens anzustacheln. Das alte Narrativ, wonach nur die notorischen Strukturreformen umzusetzen seien, um die Kirche wieder zum Blühen zu bringen, greift zu kurz. Das zeigen die evangelischen Kirchen, die das alles seit langem umgesetzt haben und mit denselben Erosionen konfrontiert sind. Solange nicht die unter der Asche liegende Glut der Evangelisierung wieder angefacht wird – das heißt unter anderem ganz konkret, dass mit Kindern gebetet wird, dass sie in die biblischen Erzählungen eingeführt, mit der Liturgie vertraut gemacht werden etc. – ist alles andere müßig.
Ist das nicht das Dilemma dieses Pontifikats, dass es Erwartungen geweckt hat, die es nie einlösen konnte oder wollte?
Die katholische Weltkirche kennt unterschiedliche kulturelle Großräume, die unterschiedliche Wertvorstellungen haben. Und die Aufgabe des Papstes, die Weltkirche zusammenzuhalten, ist enorm. Gerade deswegen wäre es eine eurozentrische Perspektivverengung, zu meinen, dass die seit den Siebzigerjahren kursierenden Vorschläge der Kirchenreform das Heilmittel wären und auf der Synode umgesetzt würden.
Was müsste bei der Synode herauskommen, um von einem Erfolg zu sprechen?
Gemessen an der gängigen Reformagenda könnte man sagen: Wenn das Frauendiakonat beschlossen wird, dann wäre das ein Teilerfolg. Aber ich würde vorsichtig sein, dieses weltkirchliche Ereignis aus einer solchen Perspektive zu beurteilen. Das Hauptziel von Franziskus ist es, die Kirche missionarisch zu stärken. Das Wort „Mission“ hat bei uns historisch bedingt keinen guten Klang, aber es geht darum, dass jeder Getaufte ein kreatives Subjekt der Evangelisierung ist. Das müsste sich dann auch konkret im Alltag bewähren.
Synode
Die derzeit in Rom stattfindende Weltsynode ist Fortsetzung und einstweiliger Abschluss des synodalen Prozesses, durch den Papst Franziskus das Erscheinungsbild und die Arbeitsweise der Kirche neu aufsetzen will. Obwohl es formal eine „Bischofssynode“ ist, sind unter den 368 stimmberechtigten Teilnehmern auch 96 Nicht-Bischöfe; 40 Personen sind weder Kleriker noch Ordensleute; ein Siebentel der Teilnehmer weiblich (die Hälfte Ordensfrauen). Bindend sind die Beschlüsse der Synode nicht – die Letztentscheidung liegt beim Papst.
Jan-Heiner Tück
geb. 1967 in Nordrhein-Westfalen, ist Professor für Dogmatik an der Universität Wien.
Kommentare