"Kirche muss politisch sein": Wie das Christentum relevant bleiben kann

Christliche Kirchen verlieren Mitglieder und öffentliche Relevanz. Was können sie dagegen unternehmen? Der KURIER hat zwei Frauen, die fest in ihren Kirchen verankert sind, zum Doppelinterview gebeten: Gerda Schaffelhofer, ehemals Präsidentin der Katholischen Aktion, und Maria Katharina Moser, Direktorin der evangelischen Diakonie.
Kann man sich als Frau heutzutage noch mit dem patriarchal dominierten Christentum identifizieren?
Schaffelhofer: Das ist wirklich ein Problem. Diese Frauenverachtung, die sich in der römisch-katholischen Kirche im Laufe der Jahrhunderte breitgemacht hat, ist nicht biblisch fundiert. Jesus hatte ein unverkrampftes, natürliches, wertschätzendes Verhältnis zu Frauen. Erst in späterer Zeit hat dieses patriarchale Virus, wie ich es nenne, zugeschlagen. Frauen wurden als minderwertige Wesen gesehen, als missglückter Mann, nur zur Zeugung gut. Diese Verachtung hat sich zum Teil bis heute erhalten.
Moser: Hier unterscheiden sich unsere Kirchen. Ich glaube zudem, dass das Amtsverständnis eines der größten Hindernisse in der ökumenischen Einigung zwischen katholischer und evangelischer Kirche ist. Wir haben formal Gleichstellung. Alle Ämter sind offen für Frauen. Das heißt aber nicht, dass wir keinen Nachholbedarf haben bei Frauen in Leitungsfunktionen.
Schaffelhofer: Ich beneide Sie dennoch um diesen Vorsprung. Solange es keinen Zugang für Katholikinnen zur Priesterweihe gibt, müssen wir uns diskriminiert fühlen.
In beiden Kirchen sinkt die Zahl der Mitglieder. Ist es gewinnbringend, sich dem Zeitgeist anzubiedern?
Moser: Ich denke nicht, dass die evangelische Kirche sich dem Zeitgeist anbiedert. Sie nimmt aufmerksam wahr, was in unserer Gesellschaft los ist. Aber natürlich es gibt Überlegungen, wie wir relevant bleiben können. Wichtig ist, dass Menschen stärker wahrnehmen, dass wir ein offenes Ohr für ihre Probleme haben. Dass wir als Kirche da sind für Sorgen und Probleme, ist vielen oft nicht bewusst. So gesehen haben wir ein Kommunikationsproblem.
Schaffelhofer: Das sehe ich genauso. Nur, dass das Fundament in der katholischen Kirche momentan noch wackeliger ist. Wir leiden an einem Glaubwürdigkeitsverlust, der vielfach selbst verschuldet ist. Ich verweise auf die Missbrauchsdebatte, den Zwangszölibat – wie ich ihn nenne – oder die letzte Entscheidung zur Homosexualität.
Ist das Vatikan-Dekret zur gleichgeschlechtlichen Partnerschaft durch Bibelstellen zur Homosexualität nicht gut begründet?
Schaffelhofer: Nein, in dieser Form ist das nicht biblisch begründet. Die Kirche bleibt hier den Menschen einfach Wertschätzung und Respekt schuldig. Homosexuelle Menschen sind genauso wie heterosexuelle Ebenbild Gottes. Die Kirche hat überhaupt kein Recht, ihnen einen Segen zu verwehren. Im Grunde genommen handelt sie jetzt gegenüber homosexuellen Menschen genauso, wie sie jahrhundertelang gegen Frauen gearbeitet hat. Es ist ein Armutszeugnis.
Moser: Was ist ein Segen? Der Segen ist der Zuspruch der Liebe Gottes, des Heils, das uns Menschen, allen Menschen, geschenkt ist. Zur Diskriminierung ist ein Segen nicht geeignet.
Aktuell sehr relevant: Assistierter Suizid ist laut Verfassungsgerichtshof nicht mehr strafbar. Wie denken Sie darüber?
Schaffelhofer: Das menschliche Leben ist für mich unantastbar, von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod. Ich möchte sehr davor warnen, Menschen nach ihrem Nutzen und Produktionswert für die Gesellschaft zu beurteilen. Wenn wir hier die Tür einen Spalt weit öffnen, wird ein Dammbruch einsetzen, der letztlich kein Fortschritt für eine humane Gesellschaft sein wird. Sterbebegleitung und nicht Sterbehilfe sollte unser Thema sein. Ich plädiere für einen stärkeren Ausbau der Palliativeinrichtungen.
Moser: Der erste Auftrag der Kirchen und der Diakonie ist immer, das Leben zu fördern. 2015 hat es eine parlamentarische Enquetekommission zum Thema „Würde am Ende des Lebens“ gegeben. Der flächendeckende Ausbau der Palliativversorgung wurde beschlossen. Das ist nicht passiert. Ich finde, das ist ein Skandal. Beim assistierten Suizid sind wir für einen gewissen Spielraum in sehr dramatischen Ausnahmefällen. Mit einem strikten Verbot werden Ärzte, Angehörige und auch Betroffene in schwere Gewissenskonflikte gestürzt.

Moser: "Zur Diskriminierung ist ein Segen nicht geeignet."
Ein Begriff den Sie jetzt beide nicht verwendet haben, ist die „Sünde“. Gibt es so etwas wie Sünde überhaupt noch?
Moser: Aus evangelischer Sicht sind wir alle Sünder. Wir werden nie dem, was Gott von uns will, gerecht. Aber Sünde ist etwas anderes als ein Fehler. Sie ist ein bewusstes Falschhandeln, das eigenen und von außen kommenden moralischen Ansprüchen nicht gerecht wird. Man muss auch sagen: Es gibt Situationen, das sehen wir gerade jetzt in der Corona-Krise, in denen wir uns nur zwischen Übeln entscheiden können. Und trotzdem müssen wir Verantwortung übernehmen und handeln. Wer handelt, steht immer auch in der Gefahr, etwas schuldig zu bleiben. Es gibt auch strukturelle Sünden, die sich etwa zeigen, wenn wir es nicht hinkriegen, unsere Gesellschaft so zu gestalten, dass zumindest alle Menschen ein Existenzminimum bekommen.
Schaffelhofer: Die katholische Kirche hat so lange von Sünde und Verdammnis gesprochen, dass die Frohbotschaft zu einer Drohbotschaft gemacht wurde. Ohne die Sünde als solche zu leugnen, sollten wir den Akzent auf eine positive Lebensgestaltung legen, den Menschen Anleitungen und Orientierung bieten, dass sie in Würde mit sich, den Mitmenschen und Gott leben können.
Apropos "strukturelle Sünde": Welche Rolle können Kirchen beim Klimawandel spielen?
Moser: Eine Vorreiterrolle. Wir haben in der evangelischen Kirche das Projekt, dass bis 2040 alle Pfarrgemeinden im Bereich der Mobilität und Infrastruktur klimaneutral werden. Dazu kommen die Klimakollekte, ein christlicher -Kompensationsfonds. Jede Pfarrgemeinde, jeder Mensch, kann über die Klimakollekte Kompensationszahlungen für Emissionen leisten, die dann klimagerechten Projekten im globalen Süden zugutekommen.
Schaffelhofer: Die katholische Kirche unter Papst Franziskus zieht hier jetzt auch nach. Früher hat man sich ja eher mit Moralfragen beschäftigt, da muss ein Umdenkprozess stattfinden. Wir sind alle gefordert, unseren Planeten, unsere Schöpfung der nächsten Generation so zu übergeben, dass er lebenswert ist. Unser Wirtschaftssystem ist auf Wachstum ausgerichtet, Grund und Boden werden ausgebeutet. Letztlich geht es darum, dass wir Menschenrechte und Menschenwürde stärker im Wirtschaftssystem verankern und dieses nachhaltig gestalten.
Bei welchem politischen Thema haben Kirchen das größte Potenzial, neue Mitglieder abzuholen?
Moser: Wir haben in den evangelischen Gemeinden Menschen aufgenommen, die auf der Flucht sind. Wir wollen sie unterstützen. Viele Gemeinden wollen auch jetzt Menschen, die auf den griechischen Inseln im absoluten Elend, in Europa, im Dreck, im Schlamm alleine gelassen werden, aufnehmen. Die Umsetzung dieses Hilfsangebot wird uns aber verwehrt. Unsere dringende Forderung: Die Lager auf den griechischen Inseln müssen evakuiert werden. Wir haben Platz.
Schaffelhofer: Wir brauchen eine menschenwürdige Betreuung vor Ort und müssen gewisse Kontingente aufnehmen. Damit beides funktioniert, brauchen wir aber zuerst eine wirkliche Bewusstseinsänderung in Migrationsfragen. Sind wir ehrlich: Diese Menschen kommen teils aus Regionen, die wir als Kolonialmächte ausgebeutet haben, wo Großmächte heute Stellvertreterkriege führen. Wen wundert es, dass sich diese Menschen auf den Weg machen und an unsere Tore klopfen? Das ist der Preis für unsere populistische Politik.
Gerda Schaffelhofer
Die studierte Theologin war 14 Jahre lang Geschäftsführerin der christlichen Wochenzeitung „Die Furche“. Von 2012 bis 2018 stand sie als Präsidentin der Katholischen Aktion vor.
Maria Katharina Moser
Die Sozialethikerin und Theologin ist seit 2018 Direktorin der Diakonie Österreich. Moser hat zudem interkulturelle Frauenforschung auf den Philippinen studiert, arbeitete als TV-Journalistin für den ORF und war vier Jahre zuerst als Vikarin, dann als evangelische Pfarrerin in Wien-Simmering tätig.
Ist die Kirche der Zukunft also eine starke Politisierung?
Schaffelhofer: Da geht es nicht um eine taktische Frage, ob ich durch politische Arbeit Gläubige gewinnen will. Es ist einfach eine Notwendigkeit. Eine Kirche, die bei den Menschen sein will, muss politisch sein. Eine unpolitische Kirche kann aus meiner Sicht keine Kirche sein.
Moser: Jesus Christus sagt: Was ihr dem geringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan. Und was ihr den geringsten meiner Brüder und Schwestern nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan. Wenn wir uns für Menschen auf der Flucht, für Menschen mit Behinderung, für Menschen mit Armutserfahrungen einsetzen, haben wir als Kirchen immer diesen biblischen Auftrag im Kopf.
Zum Ende ein aktuell hochpolitischen Thema: Wie nehmen Sie die Performance Ihrer Kirchen in der Corona-Krise wahr?
Schaffelhofer: Ich habe meine Kirche eigentlich sehr vermisst. Sie hätte in Krisen-Zeiten bei den Menschen sein müssen, war in Wirklichkeit aber eher damit beschäftigt, wie sie digitale Gottesdienste optimiert. Ich möchte nicht abstreiten, dass es in vielen Gemeinden Hilfe und Unterstützung gegeben hat. Aber von der Amtskirche habe ich zu wenig wahrgenommen.
Moser: Ich glaube, dass vieles nicht so auffällig war. Anrufe bei Seniorinnen und Senioren, Besuchsdienste, Hilfe bei den Massentests: Ich denke, die Pfarrgemeinden und auch wir als Diakonie haben durchaus einiges getan in der Krise. Ohne physische Gottesdienste ist es aber schwierig. Wie kann man als Kirche Gemeinschaft leben, wenn man sich nicht sehen darf? Entscheidend ist jetzt: Wie gehen wir mit den Folgen der Krise, wie der Vereinsamung, um?

Schaffelhofer: "Das ist der Preis für unsere populistische Politik."
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