Markus Marterbauer: "Wir müssen aufhören, Österreich krank zu reden"

Der vormalige AK-Chefökonom über seinen neuen Job – und seine Pläne.
KURIER: Wie oft haben Sie es schon bereut, das Amt des Finanzministers übernommen zu haben?
Markus Marterbauer: Ich habe es gar nicht bereut. Es macht mir Spaß, obwohl die Umstände anders sind, als ich sie mir vor einem Monat vorgestellt habe.
Inwiefern sind die Umstände anders?
Die Arbeit schaut ganz anders aus, seit sich die Herausforderungen des Budgetdefizits derart extrem verändert haben. Meine Vorstellung war, dass wir das Budget 2025/26 mit anfänglich hohen Einsparungen gut sanieren und uns Spielräume für die Jahre danach schaffen können.
Ihr Vorvorgänger Magnus Brunner ging von einem Defizit von unter 3 Prozent des BIP aus. Jetzt sind wir bei 4,7 Prozent. Wie erklären Sie sich und uns die Differenz?
Ich war zur Zeit dieser Prognose noch im Fiskalrat, und dort hatten wir pessimistischere Zahlen. Der Hauptgrund für die deutlich schlechtere Lage ist die schlechte Konjunktur. Ich möchte daran erinnern, dass das WIFO im Herbst 2023 ein Plus von 1,2 Prozent beim Wirtschaftswachstum für 2024 prognostizierte, und jetzt sind wir bei minus 1,2 Prozent. Das ist ein enormer Unterschied. Die Haupteinnahmen des Staates, aller Gebietskörperschaften hängen von der Wirtschafts- und Einkommensentwicklung ab.
Was dem Fiskalrat auffällt, müsste auch den Beamten im Finanzministerium auffallen. Hat Brunner bewusst vor der Wahl nicht die Wahrheit gesagt?
Das ist vergossene Milch. Wir müssen in die Zukunft schauen.
Das Image Ihres Hauses leidet jetzt auch.
Ich habe die besten Erfahrungen mit den Beamtinnen und Beamten in diesem Haus gemacht. Ich beschäftige mich seit 37 Jahren mit Finanzen und habe dennoch in den vergangenen vier Wochen viel Neues gelernt, weil in dem Haus so viel Expertise ist. Ich kann dem Haus nur Rosen streuen. Die Staatssekretärin und ich verlassen uns auf die Zahlen des Hauses und bringen diese an die Öffentlichkeit. Daran wird sich nichts ändern.
Die Wirtschaftsprognosen lagen zuletzt oft falsch. Wollen Sie die Parameter ändern?
Ich habe 17 Jahre am Wifo geforscht und werde den Kollegen jetzt keine Ratschläge erteilen. Was wir aus den entstandenen Problemen schlussfolgern: Wir müssen uns künftig viel stärker und schneller austauschen. Das gilt auch für Länder und Gemeinden. Es ist schon klar, dass wir nicht von jeder der rund 2.100 Gemeinden alle Zahlen haben werden, aber einen aktuellen Informationsstand werden wir brauchen.

Haben Sie die Zahlen der Statistik Austria – mit 22,5 Milliarden Euro an neuen Schulden – überrascht?
Zunächst war ich von den Prognosen von WIFO und IHS überrascht, denn ich habe die Finanzlage von Ländern und Gemeinden schlechter eingeschätzt. Das alles ist der Spiegel einer schlechten Wirtschaftsleistung.
Sie müssten noch mehr sparen, um ein Defizitverfahren abzuwenden.
Es macht aber keinen Sinn, die Einsparungen aufzudoppeln, weil wir Massenarbeitslosigkeit produzieren würden, die erst recht wieder kostet. Wir müssen jetzt auf das Budget und die Konjunktur schauen.
Picken die 6,4 Milliarden Euro Einsparungen für heuer und 8,7 Milliarden für 2026?
Für heuer picken die Zahlen, und wir haben ausreichend damit zu tun, genau das auf den Boden zu bringen. Das eine ist, eine Liste mit 6,4 Milliarden Euro Einsparungen zu machen, das andere, alle Gesetze in Windeseile zu machen, die Budgetrede am 13. Mai zu halten und alles umzusetzen. Mehr ist für heuer nicht möglich – und auch das ist ambitioniert. In weiteren Jahren wird es zusätzliche Maßnahmen geben müssen.
Wie hoch wäre heuer der zusätzliche Konsolidierungsbedarf?
Doppelt so hoch.
Das sind die 12 Milliarden Euro, von denen Sie im Budgetausschuss gesprochen haben. Publik wurde die Verdoppelung des Defizits am späten Abend. Hätte Sie kein anderes Timing wählen können?
Der Ausgangspunkt waren die Ausführungen von Fiskalratschef Christoph Badelt im medienöffentlichen Budgetausschuss im Parlament und der von ihm dort bezifferte Mehrbedarf von vier bis sechs Milliarden. Ich habe gesagt, dass ich eher von der Obergrenze und sechs Milliarden Euro ausgehe. Das gehört zur Transparenz. Ich will nicht mit einer Meinung zurückhalten, denn das Parlament beschließt das Budget, ist der Souverän – wir legen das Budget nur vor. Ich werde mich mit allen Budgetsprechern laufend austauschen. Wir müssen uns über die Fakten einig sein.
Prognosen unterliegen Schwankungsbreiten. Sind Sie jemand, der lieber das untere oder das obere Ende als Wert heranzieht?
Ich bin Realist. Am WIFO sagte man über mich immer, ich hätte eine optimistische Einschätzung. Das ist vielleicht eine Lebensgrundhaltung, die ich mir auch bewahren will. Jetzt ist es meine Aufgabe, die Fakten zu präsentieren. Wir müssen aber auch aufhören, Österreich krank zu reden, denn wir sind eines der wirtschaftlich und sozial stärksten Länder der Welt. Wenn wir das Budget sanieren, und das werden wir, wird hier nicht die Welt zusammenbrechen.
Holger Bonin und Gabriel Felbermayr sprachen von „Krisenmodus“ und „verlorenen Jahren“ …
Die Aussagen haben für mich gar nicht zu den von ihnen präsentierten Zahlen gepasst. Einerseits waren die Defizitzahlen geringer, anderseits war von einem Doomsday-Szenario die Rede. Ich bin gerade mit Felbermayr in besonders gutem Austausch und sage ihm, wenn ich anderer Meinung bin.

WIFO und IHS haben Zurückhaltung bei den Beamtengehältern und den Pensionen gefordert. Schließen Sie eine Anhebung unter der Inflationsrate in dieser Legislaturperiode aus?
Ich schließe gar nichts aus. Die Beamtengehälter sind bis 2026 verhandelt. Ich würde mich freuen, mit den Beamten darüber zu diskutieren, was ihr Beitrag sein kann, denn alle Bevölkerungsgruppen werden ihren Beitrag leisten müssen.
Wenn alle etwas leisten müssen, dann auch jene, die arbeitslos sind? Die ÖVP wollte immer ein degressive Arbeitslosengeld-Modell…
Das degressive Arbeitslosengeld halte ich für völlig falsch, denn es wäre der Versuch, den Menschen mit der höchsten Armutsgefährdung Angst zu machen. Das Gegenteil wollen wir: Hoffnung geben, indem wir 220 Millionen in Qualifikations- und Vermittlungsmaßnahmen investieren.
Um den Spieß umzudrehen: Brauchen wir vermögensbezogene Steuern?
Ich persönlich bin der Meinung, dass wir sie benötigen würden. In Regierung und Parlament gibt es dafür aber keine Mehrheit, deshalb werden sie in dieser Legislaturperiode nicht kommen. Was die nächste Legislaturperiode betrifft, bin ich optimistischer.
Sollte der Sparbedarf weiter steigen, könnten Sie ja noch einmal mit Vehemenz mit den Koalitionspartnern darüber sprechen.
ÖVP und Neos kennen meine Position. Sollten sie die Initiative ergreifen, würden wir wahrscheinlich nicht „Nein“ sagen. Von uns wird dazu keine Initiative kommen.
Sie gelten als Keynesianer. Sollten wir nicht in Krisenzeiten mehr investieren und höhere Schulden machen, um die Wirtschaft anzukurbeln?
Aus konjunktureller Sicht wäre jetzt Zeit zu investieren und in guten Phasen Zeit zur Sanierung. Ich würde auch gerne Investitionen ermöglichen, habe aber das Geld nicht. Deshalb bin ich froh, dass Deutschland jetzt 500 Milliarden in Klimaschutz und Infrastruktur investiert. Davon wird unsere Wirtschaft enorm profitieren.
Der Mitnahmeeffekt durch das deutsche 500-Milliarden-Paket…
…wird groß sein. Wenn die Deutschen wirklich ein Zehntel dieses Pakets für 2026 umsetzen, ist das der größte Konjunkturimpuls, den Deutschland in den letzten 25 Jahren hatte.
Hat die spendable türkis-grüne Regierung nicht demonstriert, dass höhere Ausgaben in Krisenzeiten kontraproduktiv sind?
Die vergangene Bundesregierung hat viel Geld für Förderungen und Transfers ausgeben – eher nicht für Zukunftsinvestitionen. Das wäre eigentlich gefragt gewesen. Im Klimaschutzbereich hat man einiges weitergebracht, aber auch Gutverdienern 50.000 Euro für den Heizkesseltausch gegeben. Haben wir wirklich so viel Geld gehabt? Nein.
Die Ministerien sollen heuer 15 Prozent ihrer Sachausgaben bzw. 1,1 Milliarden Euro einsparen. Schaffen sie das?
Es ist eine Riesenherausforderung. Wir haben letzte Woche den einzelnen Ministerien mitgeteilt, wie groß ihr Anteil ist. Ihre Beamtinnen und Beamten schauen sich das jetzt an, in laufendem Austausch mit uns. Ich glaube, alle haben bei den Vorgaben einmal geschluckt – und manche mehrmals.

Wo können die Ministerien sparen?
Bei allen Beschaffungen, von den Getränken bis zum IT-Bereich. Im BMF haben wir geplante Projekte verschoben oder abgesagt. Nächste Woche haben wir einen ersten Zusammenblick aller Ressorts. Bis Ende April muss alles fertig sein.
Die Vorgaben sind unterschiedlich hoch. Wen trifft es am härtesten?
Es wird allen Ministerien wehtun, heuer und nächstes Jahr. Ganz wichtig ist, dass niemand das Gefühl hat, er kommt nicht dran. Deshalb führen wir diese Debatte auch nicht öffentlich. Die Zahlen werden im Doppelbudget dargestellt.
Das WIFO fordert eine Föderalismus-Reform, die Länder bekunden Reformwillen, aber bisher keine große Sparbereitschaft. Wo könnten die Länder sparen?
Ich habe eigentlich einen sehr positiven Eindruck. Salzburgs Landeshauptmann Haslauer hat gesagt, dass die Länder über alle Bücher gehen werden. Selbiges gilt für Gemeindebundpräsident Pressl. Da geht es mittelfristig etwa darum, wie man Gemeindedienstleistungen wie Bauhöfe zusammenlegen kann. Über all das müssen wir gemeinsam nachdenken, statt uns öffentlich etwas auszurichten.
Vertrauen Sie darauf, dass die Gebietskörperschaften von sich aus ambitionierte Pläne vorlegen?
Wir fangen noch diese Woche mit Gesprächen an. Dann werden alle schauen, was bei ihnen möglich ist, dann treffen wir uns wieder und diskutieren. Gerade bei den Gebietskörperschaften ist das ein mittelfristiges Projekt.
Sollte es kein Wirtschaftswunder geben, muss die Regierung strukturelle Reformen beschließen. Gibt es schon einen Plan, etwa im Pensionssystem?
Es muss in allen Bereichen gespart werden. Das heißt aber nicht, dass wir auch überall Leistungen kürzen. Zum Pensionsthema: Für mich als Finanzminister ist der Bundeszuschuss relevant. Der hängt auch von den Pensionsversicherungsbeiträgen ab, die wiederum von der Beschäftigung abhängen. Der Zuschuss ist jetzt so gestiegen, weil sich wegen der Teuerung die Wirtschaft schlecht entwickelt hat. Ein weiterer Hinweis, dass wir das Budget nicht sanieren sollten, ohne auf die Konjunktur zu schauen.
Sie glauben, eine Anhebung des gesetzlichen Pensionsalters ist nicht nötig?
Die wirkliche Baustelle haben wir beim faktischen. Und ich möchte darauf hinweisen, dass in den letzten zehn Jahren das faktische Pensionsantrittsalter um zweieinhalb Jahre gestiegen ist. Gelingt uns das noch einmal, dann sind wir Kaiser.
Bleibt der Bundezuschuss langfristig zu hoch, blockiert das jedenfalls andere Reformen.
Den Bundeszuschuss gibt es seit der Gründung des Pensionssystems, 1946. Ja, der muss im Rahmen bleiben. Da bin ich aber optimistisch, wenn es Österreich gelingt, die Beschäftigung hochzuhalten und die Produktivität zu steigern. 1946 war Österreich ein Armenhaus, auch damals haben wir Pensionen ausgezahlt. Warum soll uns das nicht weitere 75 Jahre gelingen?
Vizekanzler Andreas Babler hat Spitzengagen im ORF kritisiert, die gerade veröffentlicht wurden. Die Tabelle sorgt für Transparenz, aber auch für eine Neiddebatte. Ist das richtig?
Bei so hohen Gehältern im öffentlichen Bereich bin ich immer für Transparenz. Mein Gehalt ist ja auch bekannt. Früher haben wir immer gesagt, die Manager in Betrieben sollen nicht das 20-fache der durchschnittlichen Arbeitnehmer verdienen. Hier sind wir eher beim 60-fachen. Das ist also eine Debatte, die man führen muss, und zwar im gesamten öffentlichen Bereich.
Halten Sie Ihr Gehalt für gerecht?
Ein Minister verdient rund 19.000 Euro brutto. Wenn es weniger wäre, würde es mich auch nicht stören. Wegen des Geldes bin ich nicht in die Politik gegangen. Ich habe mein Gehalt erfahren, nachdem ich diesen Job angetreten habe.

Privat
Markus Marterbauer wurde am 26. Februar 1965 in Uppsala (Schweden) geboren und wuchs in Oberösterreich auf. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Beruflich
Der Nationalökonom begann als Assistent am Institut für Volkswirtschaftstheorie und -politik der WU Wien. Von 1994 bis 2011 arbeitete er als Konjunkturreferent am Wifo, war also auch für Wirtschaftsprognosen verantwortlich. Danach leitete er die Abteilung Wirtschaftswissenschaften und Statistik an der Arbeiterkammer Wien – und war zusätzlich Vizepräsident des Fiskalrats. Seit 3. März 2025 ist er Österreichs Finanzminister.
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