Flüchtlingskrise offenbart Führungsproblem
Tag für Tag und rund um die Uhr wird von der atombombensicheren Einsatzzentrale in St. Johann/Pongau (Salzburg) das geografische Umfeld der Republik beobachtet. Täglich wird auch im Innenministerium ein "Gesamtstaatliches Lagebild" und eine "Strategische Zukunftsanalyse" aktualisiert, die den Beobachtungszeitraum von 6 bis 18 Monaten abdecken.
Und dann marschieren 270.000 Menschen durch die Republik – und alle sind überrascht.
Frühwarnsystem
Zumindest das "Staatliche Frühwarnsystem" hat funktioniert. Das Heeresnachrichtenamt (HNaA) prognostizierte die aktuellen Situation bereits im März 2011:
Im Juli 2012 warnte auch Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) vor einem Flüchtlingsansturm aus Syrien. Sie forderte Kasernen-Quartiere und lieferte sich Kontroversen mit den Landeshauptleuten.
Doch die besten Analysen nutzen nichts, wenn sie nicht ein Gesamtverantwortlicher liest. Und den gibt es seit dem Bundesministeriengesetz 2003 nicht mehr. Damals schob Kanzler Wolfgang Schüssel das Krisenmanagement in das Innenministerium des Ernst Strasser ab.
Handlungsunfähig
Die Folge ist nun ein handlungsunfähiger Apparat. Wohl kann die Innenministerin unter gleichberechtigten Ministerkollegen Probleme aufzeigen. Doch wenn die das nicht interessiert, passiert gar nichts. Denn Notverordnungen wurden im Bundesministeriengesetz dem Innenministerium nicht zugestanden.
Als am Freitag, dem 4. September, der Flüchtlingsmarsch vom Budapester Bahnhof Keleti nach Westen begann, blieb der Innenministerin nur mehr die Eigeninitiative. Konrad Kogler, Generaldirektor für öffentliche Sicherheit, richtete eine "7er-Lage" ein. Neben den Verbindungsbeamten der wichtigsten Ministerien sitzen auch die Stadt Wien, ÖBB, Busunternehmer und NGOs drinnen.
Mikl kann nur bitten
Mangels Kompetenzen darf der Führungsstab nur Bitten äußern. Es kling skurril: Während jeder Feuerwehrhauptmann bei Hochwasser die Baumaschinen von Bauunternehmen beschlagnahmen kann, darf die Innenministerin im Zuge einer humanitären Katastrophe nur um Unterstützung bitten. Kogler kann es sich nicht aussuchen, ob und wann ein Flüchtlingszug losfährt – und wann das Quartier in den Bundesländern für diese Flüchtlinge geöffnet wird.
Strukturproblem
Es ist ein Strukturproblem, das schon mehrfach angesprochen wurde. Aber die Schüssel-Nachfolger Alfred Gusenbauer (SPÖ) und Werner Faymann (SPÖ) verwehrten sich gegen das Ansinnen, das Krisenmanagement wieder ins Bundeskanzleramt zu holen.
Fischer für Reform
Zuletzt thematisierte Bundespräsident Heinz Fischer das Problem. Im August 2014 sandte die Präsidentschaftskanzlei an den Generalstab des Bundesheeres ein Ersuchen, Überlegungen für ein klar strukturiertes Krisenmanagement anzustellen. Und zwar nach dem Muster der früheren "Umfassenden Landesverteidigung" (ULV) – jener Struktur, die durch Kanzler Schüssel aufgehoben wurde. Morgen, Montag, wird an der Landesverteidigungsakademie ein Projekt gestartet.
Sicherheitschef Kogler sagt zum KURIER: "Es fehlt jedenfalls ein Kollegialorgan, das konsensual konkrete Verordnungen erlassen kann."
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