Experte sieht "Kapitalfehler": Kritik an der "unfehlbaren Justiz"

Experte sieht "Kapitalfehler": Kritik an der "unfehlbaren Justiz"
Rechtsexperte Rudolf Welser erklärt im KURIER, weshalb die Beziehung zwischen Gerichtsbarkeit und Volk eine komplizierte ist.

„Das Recht hat der Politik zu folgen, nicht umgekehrt.“

Innenminister Herbert Kickl hat mit diesem Sager vermeintlich ein Tabu gebrochen. Die Menschenrechtskonvention hinterfragen, sie als veraltet und nicht mehr praktikabel bezeichnen – darf man das? Der FPÖ-Mann sagte das wohl aus politischem Kalkül, zeigte damit aber auch: Sie ist kompliziert, die Beziehung zwischen Justiz und Politik, zwischen Justiz und den Menschen.

Beispiele gibt es zuhauf: Wenn der Verfassungsgerichtshof in den nächsten Wochen entscheidet, ob die Raucherregelung in der Gastronomie hält, greift er in eine politische Entscheidung ein – und wird sich so oder so keine Freunde machen.

Erklärungsbedarf gibt es auch beim so genannten „Kuh-Urteil“. Ein Landwirt soll 490.000 Euro an Schadenersatz zahlen, weil vor fünf Jahren eine Wanderin auf einer Alm von seinen Kühen zu Tode getrampelt wurde. Das sei „praxisfremd“, schimpfen Agrar-Vertreter und Landespolitiker – und beschwören das Ende der Almen herauf.

Stellt sich die Frage: Ist die Justiz wirklich abgehoben? Oder – Gott bewahre – ist sie gar fehlbar?

Nicht kommuniziert

Vorab: Das Vertrauen in die Justiz dürfte in Österreich noch recht intakt sein. Beim Demokratie-Monitor 2018 lag sie als Institution auf Platz zwei hinter der Polizei: 67 Prozent der Befragten gaben an, ihr „sehr“ bzw. „ziemlich“ zu vertrauen.

Dieses Vertrauen muss gepflegt werden, sagt der renommierte Zivilrechtler Rudolf Welser, der im Justizministerium an zahlreichen Gesetzen mitgewirkt hat. Ein „Kapitalfehler“ sei in kontroversen Fällen wie dem Kuh-Urteil, wenn nicht ausreichend kommuniziert wird.

Zwar ist für Welser die Ansicht des Landesgerichts Innsbruck, dass der Landwirt seine Tiere hätte besser verwahren müssen, nicht von der Hand zu weisen. „Es ist aber eine Nachlässigkeit, dass sich seit Tagen alle aufregen, runde Tische einberufen und Gesetzesänderungen angedacht werden, und noch immer niemand öffentlich darlegt, wie man auf diese Unsumme kommt“, kritisiert der Zivilrechtler, dem der (nicht rechtskräftige) Schadenersatz inklusive monatlicher Rente für Witwer und Sohn ein Rätsel ist.

Das Kuh-Urteil sei aber eine Ausnahme. Welser sieht vielmehr einen Trend zum überbordenden Erklären: „Vor lauter Angst, dass ein Urteil zerpflückt wird – medial oder von der zweiten Instanz – werden sie unendlich aufgebläht. Jeder Gedankengang muss nachprüfbar sein. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit.“

Dazu kommt, dass Medien auf Gerichte Druck ausüben, meint Welser. Angeklagte wie Karl-Heinz Grasser fürchten nicht ganz zu Unrecht einen „Promi-Malus“. Bei Fällen, die medial über einen langen Zeitraum durchleuchtet werden, wird ein Freispruch zur richterlichen Mutprobe. Aufgezeigt bzw. kritisiert hat das etwa Peter Westenthaler (siehe unten).

Recht wird ausgereizt

Was zum nächsten Problem führt: Die Verfahren dauern eine gefühlte Ewigkeit, siehe Causa Buwog: Von der ersten Anzeige bis Anklage sind sieben Jahre vergangen, wegen Einsprüchen wurde sie erst nach knapp einem Jahr rechtskräftig, die Hauptverhandlung mit unzähligen Zeugen dauert nun schon länger als ein Jahr. Welser meint: „Der Rechtsschutz ist stark ausgeprägt.“ Anwälte schöpfen jede Beweismöglichkeit aus, Urteile der ersten Instanz werden mittlerweile fast standardmäßig angefochten. „Die Zeit, wo man auf einen einzelnen Richter vertraut und seine Entscheidung akzeptiert, ist vorbei.“

Dazu kommt für Welser, „dass manche Gesetzestexte unlesbar geworden sind. Anstatt eine Vorschrift auf eine möglichst einfache Aussage zu reduzieren, gibt es in den Gesetzen zentimeterlange Absätze, Ausnahmen von der Gegenausnahme. Das ist für einen Rechtsstaat nicht erstrebenswert“. Die Gesetzbücher gehörten einmal ausgemistet. Aber das – und an der Stelle seufzt der Professor – „wird seit 50 Jahren gepredigt, und passiert ist nichts“.

Prinzip „zu Tode gehetzt“

Bei seiner Kritik lässt Welser auch die Höchstgerichte nicht aus: Institutionen, die über allem stehen, die angerufen werden, wenn man auf der unteren Ebene nicht weiter weiß, und deren Erkenntnisse als letzte Instanz picken.

Beispiel Karfreitag: Dass der Europäische Gerichtshof zwischen Katholiken und Evangelischen eine Diskriminierung gesehen und sie beseitigt hat, hält Welser für eine „bedenkliche Entwicklung“. Der Gleichheitsgrundsatz sei „zu Tode gehetzt“ worden, urteilt der Zivilrecht-Professor. „Man ist fixiert auf die formale Gleichheit, lässt aber außer Betracht, dass solche Regelungen historisch gewachsen und von der Bevölkerung zum größten Teil akzeptiert worden sind.“ Dass die Evangelischen nun einen Feiertag verloren haben, während für die Katholiken alles bleibt, wie es ist, sei „ein fast absurdes Ergebnis“.

Vorsicht bei politischen Fällen

Entscheidungen wie zum Rauchen in der Gastronomie hätten zudem eine politische Tragweite, bei der Vorsicht geboten sei: „Es ist problematisch, wenn eine Handvoll Höchstrichter über Dinge entscheidet, die eigentlich gewählten Volksvertretern vorbehalten sind. Es braucht ein Ventil, damit die Grenze zwischen Höchstgerichtsbarkeit und Parlament nicht verwischt wird.“

Unfehlbar ist die Justiz also nicht, sie zu hinterfragen, scheint legitim. Klar ist für ihn aber: „Die Rechtsordnung ist Ausdruck einer Kultur, und obwohl es einen gewissen Gleichklang geben soll, darf sich die Justiz in ihren Entscheidungen nicht nach der vorherrschenden Volksmeinung richten. Das bringt den Rechtsstaat in Gefahr.“

Die jüngsten Aufreger

Praxisfremd, zu lang, zu streng oder von großer Tragweite: Diese Urteile bzw. Verfahren wurden zuletzt kontrovers diskutiert:

EuGH-Urteil zum Karfreitag:

Bisher war der Karfreitag nur für Evangelische und Altkatholiken ein Feiertag. Laut EuGH war das diskriminierend für alle anderen Österreicher. 

Hohe Summe im Kuh-Urteil:

Weil eine Frau in Tirol  von einer nicht eingezäunten  Kuhherde getötet wurde, soll der Bauer 180.000 € plus monatlich 1500 € an die Familie zahlen. In Summe dürften das um die 490.000 Euro sein.

Langes Verfahren zur Buwog:

2009 starteten die Ermittlungen, zehn Jahre später gibt es immer noch kein Urteil. Nächste Woche werden spannende Zeugenaussagen erwartet.

"Promi-Malus", Beispiel Westenthaler:

Wegen schweren Betrugs war der Ex-BZÖ-Chef bis Ende Jänner sechs Monate in Haft. Er beklagt, die „mediale Vorverurteilung“ hätte ihn ohnehin ruiniert.

Kommentare