"Der Islam, wie er jetzt ist, ist nicht zukunftsfähig"
Im Islam werde zu wenig hinterfragt und zu viel einfach nur hingenommen, sagt Ednan Aslan. Für den Religionspädagogen liegt die Lösung in einem Islam europäischer Prägung. Wien könne hier sogar eine Vorreiterrolle spielen. Dafür müsse sich jedoch auch der islamische Religionsunterricht ändern. Wie Religion dort derzeit vermittelt wird, hält Aslan nämlich für "gegenwartsfremd".
Kurier.at: Sie konzipieren derzeit den Lehrplan für das neue Studium "Islamische Theologie". Was erwarten Sie sich von dieser Neuaufstellung?
Ednan Aslan: Wir wollen islamische Lehre nicht inhalieren, sondern hinterfragen. Wir wollen das Gesicht des Islam neu prägen. Egal, wie Sie diese Prägung jetzt bezeichnen – Islam europäischer Prägung, oder Islam Wiener Prägung. Wichtig ist, dass der Islam ein neues Gesicht bekommt, um zukunftsfähig bleiben zu können. Denn der Islam, wie er jetzt ist, ist nicht zukunftsfähig. Aktuell ist der Islam leider eine Religion der Isolation. Eine Religion der Migration. Eine Religion der Türkei, von Saudi Arabien. Aber keine Religion von Europa, die Pluralität verinnerlicht und die Kinder dementsprechend für eine plurale Gesellschaft vorbereitet.
Ist das eine Mehrheitsposition innerhalb der islamischen Community, oder stehen Sie damit alleine da?
Alleine kann man nicht sagen, weil wir nämlich die Mehrheit der Muslime nicht kennen. Ich gebe Ihnen ein banales Beispiel. In den Schulbüchern der IGGÖ (Anm: Islamische Glaubensgemeinschaft) sind muslimische Frauen immer mit Kopftuch abgebildet. Aber in Österreich tragen nur 20 Prozent der Muslimas Kopftuch. Wieso machen wir das Bild über Muslime an diesen Frauen mit Kopftuch fest? Es sind diese Organisationen, die unser Bild vom Islam prägen, das aber eben nur ein Ausschnitt ist.
Wie müsste ein zeitgemäßer Religionsunterricht, der in Österreich ja von der IGGÖ organisiert wird, in Ihren Augen aussehen?
Die wichtigste Voraussetzung für den Religionsunterricht – und überhaupt für die Bildung – ist, dass die Kinder denken lernen. Das bedeutet, dass die Kinder nicht alles hinnehmen, was im Namen der Religion vermittelt wird. Sie sollten auch in die Lage versetzt werden, theologische, religiöse Inhalte zu hinterfragen. Alles andere ist keine gesunde Religiosität.
Leistet das der aktuelle islamische Religionsunterricht?
Die Welt der Jugendlichen in Wien hat mit jener in den Religionsbüchern wenig gemein. Was hat ein Jugendlicher in Wien davon, wenn er lernt, wie viele Kamele, Schafe, Ziegen er für die Almosensteuer abgeben muss? Oder ob der Prophet Heuschrecken gegessen hat oder nicht? Das steht in einem Schulbuch im 21. Jahrhundert in Wien. Das ist gegenwartsfremd. So lernen die Kinder nicht zu reflektieren, sondern lernen nur, wie man die vorgegeben Regeln hinnimmt.
Also es geht nicht um das Hinterfragen von Geboten, sondern um die genaue Auslegung?
Mich als Religionspädagogen interessiert doch nicht, ob der Prophet Heuschrecken gegessen hat, oder nicht. Diese Mentalität, dass man nicht hinterfragen kann, führt in eine Sackgasse. Das Beispiel mit den Heuschrecken ist ja nicht das Problem. Religion geht ja weiter, der Prophet hat sehr viel mehr gesagt. Aber die Gefahr fängt da schon an, weil man die Aussagen als absolute Wahrheit nicht mehr hinterfragen kann.
Die IGGÖ ist für den Inhalt der Schulbücher verantwortlich. Gibt es dort einen Diskussionsprozess, was diese Art der Religionsvermittlung betrifft?
Ich habe ihnen mehrmals angeboten, auch über die Schulbücher mit ihnen zu sprechen. Aber auch bei der Debatte um das Kopftuch zeigt sich: Für die Glaubensgemeinschaft ist man entweder dafür oder dagegen. Eine lebendige Debatte, auch intern, ist so leider nicht möglich. Es wäre ein erster Schritt, die europäische Freiheit als Chance zu sehen, solche Debatten führen zu können. In den islamischen Ländern ist das leider nicht möglich. Sie können diese Debatte in Ägypten, im Iran, in Saudi Arabien einfach nicht führen.
Wen sehen Sie hier in der Verantwortung?
Diese Diskussion in Österreich darf nicht nur in der IGGÖ geführt werden, sondern muss auch in die Öffentlichkeit getragen werden. Diese Nischendebatten helfen uns nicht. Natürlich muss die Glaubensgemeinschaft gewisse Debatten anstoßen, aber zu sagen, dass über den Islam nur Muslime diskutieren dürften, wäre nicht gut. Jeder in unserer Gesellschaft hat das Recht über den Islam etwas zu sagen, weil wir dem Islam überall begegnen. Eine Frau, die Kopftuch trägt, ist doch nicht nur in der Moschee. Deshalb habe ich auch das Recht, sie zu fragen, weshalb sie das tut. Und da muss man dann auch nicht alle religiösen Argumente einfach so hinnehmen.
Gerade in der Kopftuch-Debatte scheinen die Fronten aber doch sehr verhärtet zu sein.
Bei den Muslimen hat man die Angst, dass wir die Religion verlieren, wenn man öffentlich diskutiert. Aber eine Religion lebt durch solche Debatten. Islam ist, was wir daraus machen. Wenn wir nichts anderes daraus machen können, wird diese Religion nicht mehr zukunftsfähig sein. Wenn Muslimas in der Öffentlichkeit mit dem Kopftuch unterwegs sind, sollten sie auch in der Lage sein, sich dieser Debatte zu stellen – ohne einfach beleidigt zu sein oder sich in der Opferrolle zu fühlen. Nein, jeder ist willkommen in dieser liberalen Gesellschaft. Aber eine liberale Gesellschaft braucht fähige Leute, die sich selbst und ihre Mitmenschen hinterfragen können. Und zwar ohne böse Absicht.
Die IGGÖ fällt in der Öffentlichkeit eher mit personellen Diskussionen auf. Die Wahl des neuen Präsidenten Ibrahim Olgun zeigte die Fronten, die durch die Glaubensgemeinschaft gehen. Hat sich das inzwischen gelegt?
Das glaube ich nicht. Wenn eine Institution keine Diskussion um Inhalte führt, wird man bei den Personaldebatten verweilen. Das ist das Problem der IGGÖ. Solange sie keine zukunftsfähigen Inhalte debattieren, werden sie ewig streiten. Das gilt ja nicht nur für die Glaubensgemeinschaft, das gilt für alle Organisationen. Das zweite Problem der IGGÖ ist, dass sie inhaltliche Prioritäten nicht richtig setzt. Für eine Koranveranstaltung können muslimische Organisationen für ein Wochenende 300.000 Euro mobilisieren. Aber wenn einfach nur ein islamischer Seelsorger beschäftigt werden soll, dann haben wir ein Problem, weil wir das nicht finanzieren können. Da heißt es dann, das soll der Staat übernehmen.
Wieso tut sie sich da so schwer?
Weil die inhaltliche Debatte fehlt. Die Frage, welche Kompetenzen ein Imam braucht, wird zum Beispiel einfach nicht gestellt.
IGGÖ-Präsident Olgun forderte im Kurier-Interview vor Kurzem, dass die Imame auch mehr aus der Moschee rausgehen müssten. Das wäre doch sicher in Ihrem Sinne.
Ja, aber die können wir erst nach draußen schicken, wenn wir überzeugt sind, dass die Imame über Kompetenzen verfügen, die wir in dieser Gesellschaft brauchen. Wenn kein einziger in Wien in der Lage ist, sein Anliegen auf Deutsch zum Ausdruck zu bringen, dann können wir diese Imame nicht in die Mitte der Gesellschaft schicken.
Ist das so? Sprechen wirklich so wenig Imame Deutsch?
Ja, über 90 Prozent beherrschen kein Deutsch. Das ist ein Problem. Es ist die Frage, mit welcher theologischen Einstellung diese Imame die Gesellschaft betrachten. Wenn die Imame ihre eigene Religiosität durch die Abwertung dieser Gesellschaft definieren, können uns diese Imame nicht helfen. Wir haben umgekehrt sehr viele Salafisten, die auf die Straße gehen, Korane verteilen – und die bringen eine sehr gefährliche Botschaft in die Gesellschaft. Es ist die Frage, mit welchem Interesse man nach außen geht. Wir haben im Zuge des Türkei-Putsches feststellen müssen, dass sehr viele ATIB-Imame die Menschen, die zurück in die Türkei gehen, denunzieren. Sie sind also Handlanger der türkischen Regierung. Solche Imame sind kein Teil dieser Gesellschaft.
Sie haben vergangenes Jahr mit der Kindergartenstudie für sehr viel Aufsehen gesorgt. Damals lautete ihre Annahme, dass Pädagogen, die von islamistischen Vereinen angestellt sind, diese Einstellung auch in der Betreuung der Kinder nicht ablegen. Analog dazu: Wenn die IGGÖ so politisch und konservativ geprägt ist, wie wirkt sich das auf den Lehrkörper aus?
Bei der Auswahl der Lehrer spielt die politisch-ideologische Auswahl noch immer eine Rolle. Deshalb habe ich auch das neue Islamgesetz unterstützt. Nicht, weil es alle Probleme lösen würde, sondern weil es eine entscheidende Botschaft hat: Österreich kümmert sich um seine eigenen Muslime, wir lassen nicht zu, dass sich ausländische Staaten in unsere inneren Angelegenheiten einmischen. Diese Botschaft haben wir seit Jahrzehnten vernachlässigt, aber sie ist entscheidend. Wer aber glaubt, dass dadurch alle Probleme gelöst sind, irrt.
Was hat sich mit dem neuen Islamgesetz geändert?
Die IGGÖ besteht noch immer aus Teilorganisationen, die alle aus dem Ausland gesteuert sind. Das sind Organisationen, die zwar physisch hier sind, ihre geistigen Wurzeln aber im Ausland haben. Dementsprechend bekommen sie ihre Anweisungen auch aus dem Ausland – das ist eine Tatsache. Diese Realität muss man erst einmal zur Kenntnis nehmen. Wie die IGGÖ damit umgeht, ist dann eine eigene Aufgabe. Wir haben diese Verhältnisse im Übrigen teilweise auch durch die eigene Politik produziert. Wir haben die Muslime immer als Teil der Türkei oder eines anderen Landes betrachtet. Und wenn man selbst nichts macht, dann wird eben jemand anders aktiv. Sie brauchen da als Präsident wirklich einen Zauberstab, um daraus eine österreichische Organisation zu machen.
Sie sind in Österreich als kritische Stimme innerhalb der islamischen Gemeinschaft bekannt. Wie sieht es europaweit aus? Wie ist da der Stand der Diskussion?
Wir sind in Österreich Vorreiter. Lehrerausbildung in deutscher Sprache war ein österreichisches Kunstwerk. Deutschland hat jetzt angefangen und die machen wirklich schnell Fortschritte, aber in Europa haben wir wenig solche Initiativen. Also ohne uns jetzt selbst loben zu wollen, sehe ich unsere Arbeit in Österreich wirklich auch als Beitrag für Europa. Und es ist eine Herausforderung, der sich das Land stellen muss. Österreich mag klein sein, aber wir haben mit über sechs Prozent nach Frankreich den größten Anteil an Muslimen. In Deutschland ist das nicht so drängend – dort sind es nur 3,9 Prozent, in England noch weniger. Und eine Theologie europäischer Prägung sollte so sein, dass sie die Menschen nicht geistig versklavt, sondern zu einer Mündigkeit befähigt. Das wäre wünschenswert.
Ist aktuell aber nicht genau ein gegenteiliger Trend feststellbar? Die Radikalisierungsstudie von Kenan Güngör hat das gezeigt, zuletzt hat ein Artikel im „biber“ für viel Aufsehen gesorgt, der einen Trend zur gegenseitigen Einordnung unter Jugendlichen in „halal“ und „haram“ – gut und schlecht, bzw. in „braver Muslim“ und „schlechter Muslim“, der die Regeln nicht so genau befolgt, feststellt.
In unserer Gesellschaft haben wir leider tatsächlich eine Religiosität produziert, die sich durch die Abwertung anderer definiert. Ich definiere mich also nicht durch meine eigenen Werte, sondern durch die Abwertung der anderen Werte – deswegen ist dieses Spiel mit „haram“ unter Jugendlichen so beliebt. Das geht einher mit der Abwertung westlicher Werte. Man sagt: Du bist wie die. Nicht: Du bist, wie du bist. Nein, du bist wie die, die wir immer abgewertet haben. Du musst dich an die Gebote der Religion halten. Aber genau deswegen ist die islamische Theologie, wie sie ist, aus meiner Sicht nicht zukunftsfähig. Die Leute beten nicht, weil sie lieben - die Leute beten, weil sie Angst haben. Diese strafenden Gottesbilder prägen die Grundlagen der islamischen Theologie. Gott im Islam der Gegenwart ist eine rechtliche Dimension, keine emotionale.
Dieses Hinterfragen ist doch auch eine Eigenschaft der Demokratie. Wie sehen Sie hier den Zusammenhang?
Keine Kirche, keine Moschee, ist demokratisch. Demokratie ist eine Erfindung der Aufklärung. Und solange es in den islamischen Ländern keine Demokratie gibt, und wir nicht die Freiheit haben, Fragen stellen zu können, wird sich auch nichts ändern. Wenn Sie den Präsidenten nicht hinterfragen können, wie sollen Sie dann den Propheten hinterfragen? In der Türkei hat man Philosophie an den theologischen Fakultäten verboten. Wenn es uns gelingt, den Islam zu reformieren, dann von Europa aus. Wenn das Projekt hier scheitert, scheitert es auch in der islamischen Welt. Sie ist geistig und wirtschaftlich nicht in der Lage sich dieser Herausforderung zu stellen.
Kommentare