Dollfuß-Mord: Der zweite Attentäter
Dass auf Bundeskanzler Dollfuß zwei Mal geschossen wurde, weiß man seit der Obduktion seines Leichnams. Auch, dass die Schüsse aus zwei verschiedenen Waffen abgefeuert wurden, war von Anfang an klar. Doch man kannte immer nur den Namen eines Täters. Jetzt, 80 Jahre später, wird aufgedeckt, wer den zweiten Schuss auf Engelbert Dollfuß abgab. Ein Wiener Historiker liefert die Information.
Planetta schießt ein Mal
Hofrat Professor Dr. Peter Broucek ist einer der angesehensten Militärhistoriker Österreichs. Er weiß, wer der zweite Attentäter war. "Sein Name", sagt er, "war Rudolf Prochaska".
Illegales SA-Mitglied
Prochaska, zum Zeitpunkt des Attentats 39 Jahre alt, war Luftwaffenoffizier im Bundesheer der Ersten Republik und illegales Mitglied der SA, einer Schlägertruppe der in Österreich verbotenen NSDAP.
Woher bezieht Hofrat i. R. Broucek (76) die schwerwiegende Information, dass der bisher kaum bekannte damalige Major Rudolf Prochaska der zweite Attentäter war?
Zwielichtige Figur
Kiszling war eine zwielichtige Figur. Er hatte das Kriegsarchiv nach dem Ende der Monarchie mit aufgebaut und war von 1936 bis 1945 dessen Leiter. Kiszling stand den Nationalsozialisten nahe und war an der Planung des Dollfuß-Attentats beteiligt.
"Der bei dem Gespräch über 90-jährige, aber noch sehr vitale Kiszling", erzählt Broucek weiter, "redete mit mir ganz offen über seine Rolle beim Dollfuß-Attentat: Kiszling selbst befand sich am 25. Juli 1934 im Kriegsarchiv, einem dem Bundeskanzleramt angrenzenden Gebäude, und er selbst war es, der Planetta und Prochaska als Anführer des Putschversuchs angeworben hatte." Eines Tages, Mitte der 1970er-Jahre, sagte Kiszling sehr deutlich zu Broucek, "dass es Prochaska war, der den zweiten Schuss auf Dollfuß abgab".
Schaden fürs Ansehen
Für Dr. Broucek besteht kein Zweifel, "dass Kiszlings Aussage der Wahrheit entspricht. Ich kannte ihn viele Jahre, und er hatte keinen Grund, eine Geschichte zu erfinden, die seinem eigenen Ansehen nur Schaden und keinen Nutzen brachte." Darüber hinaus bestätigte der bekannte Historiker Ludwig Jedlicka ( 1977) auf Brouceks Anfrage, "dass er dieselbe Information von Kiszling erhalten hat. Und auch für Jedlicka bestand kein Zweifel an der Richtigkeit dieser Aussage."
Warum hat Broucek fast 40 Jahre gewartet, um Rudolf Prochaska als zweiten Dollfuß-Attentäter zu entlarven?
"Kiszling hatte mir, als er Prochaskas Namen nannte, das Versprechen abverlangt, dessen Rolle am Dollfuß-Mord in absehbarer Zeit nicht publik zu machen, wohl auch weil Prochaskas Witwe damals noch lebte. Als ich mich heuer anlässlich des 80. Jahrestages wieder mit dem ,Juli-Putsch‘ beschäftigte, dachte ich, dass inzwischen genügend Zeit vergangen ist."
Über den Tathergang gibt es divergierende Zeugenaussagen, doch aus der gerichtsmedizinischen Untersuchung des Leichnams von Dollfuß geht eindeutig hervor, "dass die beiden Schusskanäle auf zwei verschiedene Kaliber hinweisen, und zwar auf 9 mm und auf 7,62 mm". Demnach steht fest, dass die Schüsse aus zwei verschiedenen Waffen und von zwei Personen abgegeben wurden.
Planettas Geständnis
Planetta, der bereits Stunden nach der Tat von der Wiener Polizei als Attentäter identifiziert werden konnte, legte ein Geständnis ab, ohne jedoch den Namen des zweiten Schützen preiszugeben.
Otto Planetta und sieben weitere Hauptbeteiligte des Attentats wurden von einem Militärgericht wegen Mordes und Hochverrats zum Tod verurteilt und am 31. Juli 1934 hingerichtet. Planettas letzte Worte waren "Heil Hitler!"
Prochaskas Karriere
Wer den tödlichen Schuss abgab – ob Planetta oder Prochaska oder ob beide Schüsse tödlich waren – wird wohl nicht mehr zu eruieren sein. Dollfuß wurde am Hals und in der rechten Achselhöhle verletzt, ehe er im Kanzleramt verblutete. Die Putschisten waren weder bereit einen Arzt, noch einen Priester zu rufen, um deren Beistand Dollfuß gebeten hatte.
Seriöser Informant
Der prominente Historiker Gerhard Jagschitz sagt, zum zweiten Attentäter befragt, dass Hofrat Broucek zweifelsfrei ein seriöser Informant sei. Man müsse aber – weil es viele zeitgenössische Gerüchte gab und heute noch gibt – "in den eben freigegebenen, diesbezüglich noch nicht aufgearbeiteten Beständen des Moskauer Sonderarchivs weiterforschen". Es sei möglich, dort weitere Informationen über den zweiten Attentäter zu finden. (Der KURIER wird dieser Anregung nachgehen).
Präsident auf Urlaub
Der eigentliche Plan des Putschversuchs der Nazis am 25. Juli 1934 war es, die österreichische Regierung gefangen zu nehmen und selbst die Macht an sich zu reißen. Doch die Regierungsmitglieder waren vorgewarnt worden und hatten den Ballhausplatz rechtzeitig verlassen. Nur Dollfuß blieb. Bundespräsident Wilhelm Miklas, auf den ebenfalls ein Attentat geplant war, befand sich auf Urlaub in Velden und ernannte nach Dollfuß‘ Tod Unterrichtsminister Kurt Schuschnigg zum neuen Bundeskanzler.
Noch war die Machtübernahme der Nationalsozialisten gescheitert.
Das neue Buch von Georg Markus
Soeben erschienen: Das neue Buch von Georg Markus „Alles nur Zufall? Schicksalsstunden großer Österreicher“, in dem der Autor historische und berührende Augenblicke im Leben von mehr als 50 bedeutenden Persönlichkeiten von Maria Theresia über Kaiser Franz Joseph und Elisabeth, Mozart, Haydn, Strauß, Stefan Zweig, Figl, Kreisky, Romy Schneider bis Oskar Werner u. v. a. schildert.
Amalthea Verlag Wien, 304 Seiten, zahlreiche Abbildungen, € 24,95. Erhältlich im Buchhandel oder – handsigniert vom Autor – im kurierclub.at
Kommentare