Die Hoffnung auf die stille Mehrheit der "Remainers"

Handgeschriebene Liebespostkarten von Franzosen an die Briten: Die „Operation Croissant“ wirbt in London um ein „Remain“-Votum.
Heute entscheidet sich die Zukunft Großbritanniens inner- oder außerhalb der Europäischen Union. Davon auch betroffen: drei Millionen EU-Bürger auf der Insel.

In den letzten Stunden vor der großen Abstimmung über die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens tobt im Zentrum der historischen südenglischen Kleinstadt Canterbury immer noch der Wettkampf der Kampagnen. Ein Mann mit weißem Vollbart steigt auf sein Rad, auf der Brust seiner neongelben Warnweste prangen als Anstecknadel die Buchstaben "IN" in Blau und Rot – das Logo von "Britain Stronger in Europe". Er macht sich auf den Weg nach Hause, denn an diesem Abend wird Deutschland gegen Nordirland spielen, und er hat seinen beiden Söhnen versprochen, dabei zu sein.

Max Zöttl ist ein deutscher Psychiater und lebt mit seiner Familie schon seit 10 Jahren hier. Als einer von rund drei Millionen EU-Bürgern in Großbritannien steht er heute vor einer möglicherweise lebensverändernden Entscheidung, die er selbst nicht aktiv beeinflussen kann. Am britischen EU-Referendum dürfen nur Briten und in Britannien ansässige Bürger des Commonwealth und Irlands teilnehmen, so hat es das Unterhaus vergangenes Jahr beschlossen.

Niemand weiß genau, was im Falle eines Brexit mit Familien wie den Zöttls passieren wird. Während eines zweijährigen Abnabelungsprozesses sollte erst einmal alles beim Gleichen bleiben, doch ab da hat die Brexit-Kampagne keinerlei Garantien zu den künftigen Lebensbedingungen europäischer Einwanderer abgegeben. Vom unbestimmten Aufenthaltsrecht bis zum Recht auf Gesundheitsversorgung, Pension und Beihilfen ist alles offen.

Einbürgern lassen?

Das zugewanderten Europäern gern entgegengebrachte Argument, man könne sich ja einbürgern lassen, klingt für den an sich gut integrierten Seelenarzt nicht besonders einladend: "Brexit würde sicherlich nicht zu meiner Identifikation mit diesem Land beitragen. Nach all dem soll ich sagen: ,Ich will Brite werden?‘"

Was Zöttl mit "all dem" meint, sind nicht zuletzt seine Erlebnisse als Pro-EU-Aktivist in verschiedenen Städten von East Kent wie Margate, Ramsgate, Canterbury, Herne Bay und Dover, nahe oder direkt am Ärmelkanal und somit an der Front einer europäischen Debatte, die nicht immer sehr differenziert geführt wird.

"Es gibt Leute, die rennen nur an dir vorbei und rufen ,Out! Out! Out!‘ Das ist ein reines Gebelle", sagt Zöttl, "diese Menschen kann man schwer anhalten und fragen: ,Was sind Ihre Sorgen?‘ Es ist eine ganz diffuse, emotionale Sache. Und sie haben nicht den leisesten Schimmer davon, wie die EU funktioniert."

Angespuckt

Ein Mitglied von Zöttls Kampagne wurde von einem Brexit-Verfechter auf offener Straße angespuckt, ein französischer Kollege wiederum geht für seine Sache überall außer in seiner eigenen Stadt Folkestone auf die Straße, denn sein Chef ist ein Brexit-Verfechter, und er befürchtet Konsequenzen. Vom eigenen Vorgesetzten weggewünscht zu werden, nagt am Lebensgefühl.

Der 24-jährige Finne Otto Ilveskero belegt an der nahe gelegenen University of Kent sein weiterführendes Studium im Fach Politik und Internationale Beziehungen. Er ist nun schon seit März für "Remain" unterwegs und hat keine Zweifel über das eigentliche Hauptthema des Referendums: "Die Leute sagen mir, ,Wir sollten keine Polen und Rumänen mehr reinlassen, denn die nehmen unsere Sozialhilfe weg.‘ Was natürlich unwahr ist. Und wenn ich ihnen dann erkläre, dass selbst ich Ausländer aus Finnland bin, höre ich so Sachen wie: ,Oh, Sie sind ja aus einem respektablem Land.‘ Ein anderer Typ wiederum meinte, ich sollte mich umbringen. Wir sind hier Freiwild, weil wir keine Stimme haben."

Vor allem aber macht Ilveskero sich Sorgen um seine Zukunft. Er hat eine britische Freundin und wollte eigentlich im Land bleiben.

Immerhin, sagt Doktor Zöttl, der Mord an der Labour-Abgeordneten Jo Cox durch einen Brexit-begeisterten Rechtsextremen habe die Leute aufgewühlt: "Die sagen: ,Also, das geht zu weit.‘ Neulich kam eine vierköpfige Familie auf uns zu und hat uns eindringlich zu unserer Arbeit gratuliert."

Insgeheim hofft er so wie die anderen drei Millionen EU-Bürger in Großbritannien, dass eine stille Mehrheit scheuer "Remainers" heute an den Urnen das letzte Wort behält. Jetzt, wo alle Flugblätter verteilt sind, liegt das Leben, das er sich hier aufgebaut hat, in ihren Händen.

Professor Richard Whitman ist Chef des Global Europe Centre, eines Forschungszentrums zur weltpolitischen Rolle Europas. Er unterrichtet Politik und Internationale Beziehungen an der University of Kent. Der renommierte Europa-Forscher beklagt die unklare Exit-Position der Ausstiegs-Befürworter

KURIER:Wie stellen Sie sich die möglichen Konsequenzen des Referendums vor?
Richard Whitman:Großbritannien hat keine Wahl zwischen mehr und weniger Integration, sondern nur, ob wir eine EU-Mitgliedschaft zweiter Ordnung bestätigen oder die EU verlassen. David Camerons Deal bedeutet eine Abkehr von 50 Jahren britischer diplomatischer Strategie, die immer bemüht war, Teil des europäischen Kernprojekts zu sein. Denn darin steht: Wir wollen eine andere Art von Mitglied sein. Man kann also höchstens für die Festschreibung einer halb losgelösten Beziehung stimmen. Es gibt keine Option für mehr Integration auf dem Stimmzettel.


Ursprünglich wurde viel Aufhebens um Camerons Neuverhandlungen gemacht, aber deren Ergebnis spielt nun fast keine Rolle mehr. Eine Ironie dieses Referendums?
Absolut. Sowohl Labour- als auch konservative Regierungen wollten immer den Integrationsprozess verlangsamen, die Union ökonomisch liberalisieren und sie vergrößern, damit Frankreich oder Deutschland nicht das Steuer an sich reißen. Das werden sie in keinem der Regierungsdokumente finden. Die Exit-Position ist wiederum unklar. Will Britannien ein Singapur in Europa sein? Ein dereguliertes Offshore-Zentrum, einzig darauf ausgerichtet, Business zu ködern? Will es wie Kanada sein? Multilateral, ein gutes Mitglied der UNO, aber mit einem großen EU-Problem? Will es eine problematischere Beziehung zu den USA, die in Asien andere Ziele verfolgen als Großbritannien? Andere wieder wünschen sich eine Turbo-Version des alten Commonwealth für das 21. Jahrhundert.

Auch die Linke neigt zur Abschottung, nach dem Motto: Wenn die Rechte auf dem Kontinent an Boden gewinnt, sagen wir uns eben von Europa los.
Die Linke hat ihre pro-europäische Position nur in der Verteidigung EU-verbriefter Arbeitsrechte gefunden. Kein Labour-Politiker in Westminster vertritt idealistische Standpunkte, wie sie in Deutschland oder Frankreich selbstverständlich wären. Man glaubt, eine Reform der EU sei ein exklusiv britisches Begehren, und begreift nicht, dass es im europäischen Projekt viel ausmacht, ob etwa der Kommissionspräsident von links kommt oder es eine sozialistische Mehrheit im Parlament gibt. Britische Politiker sind in unseren demokratischen Prozessen bis in die Fingerspitzen firm, gleichzeitig aber unfähig, dieses Verständnis auf politische Institutionen in Europa zu übertragen. Wenn britische Politiker nach Brüssel fahren, kehren sie stets als Sieger zurück. Wirkliche Zusammenarbeit kennt man nicht.

Unterschätzen die Briten die Konsequenzen des Brexit auf den Rest Europas?
Ich fürchte. Man geht davon aus, dass die EU ihre Integration vertiefen wird, daher sollten wir uns rechtzeitig loseisen. Niemand sieht sich an, wie sich in anderen Ländern durch die britische Debatte die Stimmung verändert. Britannien hat einen politischen Prozess in Europa etabliert, der zuvor tabu war.

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