"Die Gier nach Überfluss ist ein Elend"

Wolfgang Pucher
Wolfgang Pucher erklärt, warum der Satz "Wir können nicht allen helfen" für ihn einfach falsch ist.

Er gründete die Vinzenzgemeinschaft Eggenberg und 38 VinziWerke, baut gerade an einer Notunterkunft in Wien und gilt als unermüdlicher Kämpfer gegen die Armut: Pfarrer Wolfgang Pucher über schöne und hässliche Armut, die Mindestsicherung – und den Sinn des Lebens.

KURIER: Herr Pucher, Sie gelten weithin als "Armenpfarrer". Wer ist eigentlich arm?

Wolfgang Pucher: Jeder, der leidet, ist arm. Egal, ob er Geld hat oder nicht. Allerdings gibt es verschiedene Ausprägungen. Da gibt es die, die wahrgenommen werden – ich nenne das die "schöne Armut". Erinnern Sie sich an den Buben aus Aleppo, der aus einem Schutthaufen ausgegraben wurde und stumm im Krankenwagen saß? Dieses Kind hat Menschen auf der ganzen Welt gerührt, da läuft einem das Herz über und man sagt: Dem muss man helfen! Daneben gibt es eine Armut, die keine Sympathie, kein Mitleid erweckt.

Die "hässliche Armut"?Genau. Und die ist meines Erachtens die viel schlimmere. Ich kenne eine Frau aus Leoben, die hat in allen Armen-Einrichtungen Hausverbot, weil sie sehr schwierig ist. Vorige Weihnachten kam sie zu mir und wollte Geld. Sie ist Spielerin. Ich war auf die Bitte nicht gefasst und antwortete barsch: "Barbara, das macht keinen Sinn!" In der Sekunde hat sie mir eine Ohrfeige gegeben und gebrüllt: "Das haben Sie verdient!" Ich habe nachgedacht. Vermutlich hatte sie recht.

Im Ernst? Warum?

Weil ich in dem Augenblick zu wenig feinfühlig war und ungehalten reagiert habe. Diese Menschen, mit denen niemand etwas zu tun haben will, die Alkoholiker, Drogenabhängigen, Haftentlassenen und Bettler: Das sind die Allerärmsten, die leiden unter der hässlichen Armut.

Sie sind in bescheidensten Verhältnissen aufgewachsen, kein fließendes Wasser, kein Strom. Wie geht’s Ihnen in unserer Wohlstandsgesellschaft?

Mir tun die Menschen oft leid. Wer nur im Luxus schwelgt, ist unglaublich arm, weil ihm der Sinn des Lebens nicht bewusst ist.

Was ist der Sinn des Lebens?

Für andere da zu sein, mit ihnen zu teilen.

Fehlt uns die Bescheidenheit?

Völlig. Dieser Druck, ständig das neueste Handy zu haben, macht kaputt! Die Gier nach Überfluss ist ein Elend.

Macht Sie das zornig?

Manchmal ja. Vor allem dann, wenn die jammern, die alles haben, und auf die schimpfen, die ihnen angeblich etwas wegnehmen. Das passt zur " Fernstenliebe".

Was meinen Sie damit?

Wenn man spendet, ist das wunderbar – weil das Leid weit weg bleibt. Bei der Bettlerdiskussion haben die Leute gesagt: "Gebt’s Geld nach Afrika, die sollen nur nicht herkommen!" Nähe tut weh, Fernstenliebe ist bequem.

Aber im Vergleich haben sich die Österreicher bei der Flüchtlingsfrage doch sehr engagiert.

Die Welt ist eine kleine geworden, es gibt nur diese eine. Das slowakische Hoštice ist näher bei Wien und Graz als Innsbruck, trotzdem interessiert uns nur, was in Innsbruck passiert. Dass ein Mensch in Hoštice ein Mal im Monat hungert, schert uns nicht. Das darf nicht sein! Solange ein Viertel der Lebensmittel, die wir kaufen, weggeworfen wird, haben wir kein Recht zu sagen: Wir können nicht allen helfen.

Wie haben Sie die Debatte um die Kürzung der Mindestsicherung empfunden?

Als unglaublich schäbig. Wie kann man diskutieren, ob die, die nichts haben, mit noch weniger auskommen?

Aber was sagen Sie Bürgern, die es als ungerecht empfinden, wenn Menschen, die nie Versicherungsbeiträge bezahlt haben, vom Staat 830 Euro im Monat bekommen?

Ich fahre oft am Gefangenenhaus Karlau vorbei. Da schau ich hinauf, und wenn ich bei einem Gitter ein Gesicht sehe, denke ich mir: ,Hätt’ ich deine Gene und du meine, würden wir Intelligenz und Familie tauschen, könnte es dann sein, dass du im Auto und ich in der Zelle säßest?

Ihr Prinzip beim Helfen?

Ich hab’ drei große Vorsätze. Erstens: nicht urteilen. Wir haben kein Recht dazu. Zweitens: Nähe von Armen zulassen oder suchen. Drittens: kleine Hilfestellungen geben. Bei vielen reicht es, nur zuzuhören oder Zeit zu schenken. Das kostet nichts, das kann jeder.

Kommentare