Christian Konrad: "Für Diplomatie bin ich nicht gebaut"
Herr Konrad, Sie waren zeitlebens ein mächtiger Mann in diesem Land. Was bedeutet Macht für Sie?
Christian Konrad: "Zeitlebens" stimmt so nicht. Ich habe meine Laufbahn in einer Raiffeisen-Bankfiliale begonnen und bin schrittweise aufgestiegen, zunächst über den operativen Bereich. Als gewählter Generalanwalt hatte ich dann natürlich Macht. Aber es war auch Verantwortung damit verbunden, der ich versucht habe gerecht zu werden. Und ich habe mich bemüht, möglichst wenig in der Öffentlichkeit zu sein – das ist zugegebenermaßen nicht immer gelungen.
Sie haben kurz aufgelacht, als ich Sie nach der Bedeutung von Macht gefragt habe. Welches persönliche Verhältnis haben Sie zur Macht?
Ein unkompliziertes. Ich weiß, wie gesagt, um die Verantwortung, die mit der Macht verbunden ist, aber es ist schön, wenn man Dinge bewegen kann – allerdings nicht zu Lasten von Menschen, sondern, wenn es irgendwie geht, zu Gunsten von Menschen. Aber ich scheue mich auch nicht vor Konflikten. Ich gehe nicht um einen Konflikt herum, sondern versuche, ihn gerade anzugehen und nötigenfalls mitten durch. Ich weiß, ich habe im Laufe meines Lebens auch viele Menschen beleidigt. In aller Regel war das auch die Absicht.
Im Sommer 2015 haben Sie Ihre Machtfülle als Flüchtlingskoordinator in den Dienst der offensichtlich überforderten Regierung gestellt. Warum wollten Sie diese schwierige Aufgabe übernehmen?
Ich wurde von Reinhold Mitterlehner, dem Vizekanzler und ÖVP-Obmann, gefragt, schließlich war ich mein Leben lang ein ÖVPler – ohne deswegen blind für alle anderen zu sein. Ich hatte natürlich mitbekommen, dass die Situation der Flüchtlinge schwierig war. Und ich bin grundsätzlich ein hilfsbereiter Mensch. Ich weiß schon, dass ich nicht die ganze Welt retten kann, aber da und dort im unmittelbaren Bereich kann man helfen. Am Anfang ging es vor allem darum, Quartiere für die vielen Flüchtlinge aufzustellen, die auf ihrem Weg durch Österreich waren, aber nicht so schnell transportiert werden konnten.
Wie viel Prozent hat bei Ihrem Engagement ein Gefühl der Verantwortung gespielt, den eigenen Einfluss sinnvoll einzusetzen, wie viel Prozent war der Wunsch, weiterhin einflussreich zu sein – also vielleicht auch die persönliche Eitelkeit?
Im Laufe des Lebens hatte ich genug Gelegenheit, persönliche Eitelkeiten abzuarbeiten. Dass ein gewisser Rest davon bleibt, wenn man feststellt, dass man aufgrund der bisherigen Tätigkeit bei manchen einen Vertrauensvorschuss oder ein gutes Image hat – ah, das ist der Konrad! – okay, das nehme ich gerne mit. Aber ansonsten weiß ich schon, dass ich diesem Land und seiner Gesellschaft sehr viel verdanke. Und wenn ich gefordert bin, etwas für das Land zu tun, dann tu ich das auch.
"Wer will, der kann" war Ihr Arbeitsmotto als Flüchtlingskoordinator. Klingt mehr nach Zweckoptimismus als nach österreichischer Realverfassung. Wie war das denn mit dem Wollen der unterschiedlichen Akteure in der Praxis?
Der Spruch war ein bisschen von Obama inspiriert. Wenn wir wollen, können wir wirklich viel – wir müssen nur wollen. Österreich hat große Ressourcen. Aber wir sind zum Beispiel bei der Quartiersuche oft auf Grenzen gestoßen: Das geht alles nicht, weil es da behördliche Vorschriften gibt, weil wir das noch nie so gemacht haben … Besonders eklatant war das bei den Kasernen: Einige standen leer zum Verkauf, sie hätten die notwendige Infrastruktur gehabt, aber wir bekamen sie wegen der Verkaufsabsichten nicht einmal als Zwischenlösung. Und später hat sich herausgestellt: Sie wurden nicht einmal verkauft. Es war halt schwierig, wie auch in Traiskirchen, Beamte, die eine Ordnung gewohnt sind und die entsprechende bürokratische Vorgaben haben, dazu zu bringen, in einer außergewöhnlichen Situation auch außergewöhnlich zu handeln – um das einmal sehr vorsichtig zu sagen. Dafür hatte ich kein Verständnis. Das Durchgriffsrecht der Bundesregierung – man konnte Gebäude, die im Bundesbesitz sind, im Notfall akquirieren – hat allerdings geholfen. Ich hatte ja die schöne Aufgabe, den jeweiligen Landeshauptmann zu informieren, dass an diesem oder jenem Standort in seinem Bundesland das Durchgriffsrecht zur Anwendung kommen soll. Und in aller Regel hat sich herausgestellt, dass in dem Augenblick, wo man mit dieser Keule gedroht hat, sofort auf lokaler Ebene die Bereitschaft da war, über alternative Objekte nachzudenken. Interessant – wer will, der kann.
Wie oft haben Sie sich in der Zeit gedacht: Gut, dass ich kein Politiker bin?Ich habe mich immer nur gewundert und gesagt, ich würde verschiedene Dinge anders machen und wohl damit scheitern. So gesehen: Gott sei Dank bin ich kein Politiker! Ich bin einer, der sich nicht gerne verstellt und der sich auch nicht gut verstellen kann. Und ein Politiker kommt da manches Mal in Situationen, wo er nicht auskann.
Sie meinen Diplomatie.
Für Diplomatie bin ich nicht gebaut.
Haben Sie auch Ihre eigenen Grenzen erreicht?
Es gab schon Situationen, wo ich nicht mehr ein und aus gewusst habe. Etwa, als der Zustrom von Menschen besonders stark war und wir vor dem Dilemma standen, dass die Deutschen möglicherweise die Grenzen zumachen. Das war die Zeit, als der bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer damit gedroht hat. An diesem Punkt sind Ferry Maier und ich zu Kanzleramtsminister Peter Altmaier nach Berlin gefahren, haben zwei Stunden geredet und kamen mit der Zusage zurück: 6000 bis 7000 Menschen pro Tag nimmt Deutschland weiterhin auf. Medial haben wir das nicht verwertet, aber intern hat es alle beruhigt. Denn auf der anderen Seite war klar, dass wir auf Dauer nicht Leute mit Autobussen an die Grenze fahren, sie dort in eine Wiese stellen und sagen können: Dort ist Germany! Das ist auch einige Male passiert.
War da manchmal das Gefühl von Ohnmacht gegenüber den Vorgaben der Bürokratie, den Befindlichkeiten der Politiker?
Ja, und mit der Ohnmacht kann ich nicht lang leben. Zu wissen, was jetzt als Hilfsmaßnahme notwendig ist, zu wissen, dass es möglich ist, und nichts tun zu können – das ist ein Zustand, den ich schwer ertrage. Da bin ich vielleicht auch das eine oder andere Mal zu weit gegangen, möglicherweise auch verbal. Da hat es ein bisschen lautere Ausbrüche gegeben. Denn natürlich haben wir manchmal im Herbst Angst gehabt, dass so viele Menschen kommen und wir nicht mehr wissen, wohin. Und die Leute vielleicht irgendwo draußen in einem Park landen, zu Schaden kommen, frieren. Wien war da immer ein Vorbild. Der Fonds Soziales Wien und sein Chef Peter Hacker haben die Menschen hier gut aufgeteilt – ohne den Fonds wären wir untergegangen. Hacker hatte auch seine Engpässe, aber er ist damit sehr pragmatisch umgegangen und hat halt manchmal gesagt: Gut, wenn wir heute keine Lösung haben, werden wir morgen eine haben.
Das ungewohnte Gefühl von Ohnmacht, das Wartenmüssen, war das vielleicht auch eine interessante Erfahrung für Sie?
Das war es schon. Ich hatte zwar in meinem Berufsleben auch Momente, wo ich nicht gewusst habe, wie es weitergeht, aber das waren in aller Regel eher abstrakte Situationen. In dieser Funktion hatte ich die betroffenen Menschen unmittelbar vor mir. Wenn man dann etwa durch das ehemalige Kurier-Haus im 7. Wiener Gemeindebezirk geht, das wir zum Notquartier umjustiert haben. Auf der Stiege sitzen Mütter mit ihren Kindern, und man weiß: es gibt da drinnen nur zwei Toiletten. Also organisiert man sofort zehn zusätzliche mobile Toiletten. Daraufhin beschwerten sich manche Anrainer, weil die Sonne eine gewisse Geruchsentwicklung förderte. Auf der anderen Seite gab es viele Menschen aus der Umgebung, die einfach halfen. Eine Frau hat monatelang jeden Tag zu Hause für 35 Menschen gekocht, Essen vorbeigebracht und verteilt.
Während Sie Lobbyarbeit für Flüchtlinge gemacht haben, hat sich die Regierung primär mit Grenzzäunen, Obergrenzen und Notverordnungen beschäftigt. Ließ sich die Politik da schon von der Angst vor den Fremden treiben?
Freilich, und zwar sehr stark. Ich hatte den Eindruck, dass vor allem die kritischen Stimmen gegen Flüchtlinge von der Politik gehört wurden. Jene, die positiv ihren Beitrag leisten, nahm man nicht so wahr. Natürlich gibt es Leute, die beunruhigt sind, wenn in einer Gemeinde 50 Jugendliche in einem Haus untergebracht werden, dort auf der Straße herumstehen, nichts arbeiten dürfen – alle Tage stehen sie da und schauen. Und dann kam die Silvesternacht von Köln.
Asylwerber kommen heute in der Debatte vor allem im negativen Kontext vor: Wenn es um die Kosten für den Sozialstaat oder um Kriminalität geht. Kann man diesen gesellschaftlichen Diskurs überhaupt noch versachlichen?
Man könnte schon, nur muss man es auch wollen. Es ist eine sehr einfache Form des Populismus, zu behaupten, wenn in Österreich etwas nicht funktioniert oder die Kosten explodieren, sind die Fremden schuld. Natürlich muss man die Fakten und Zahlen sachlich überprüfen, aber in Summe zu sagen, der österreichische Staatshaushalt kippt, weil wir jetzt so viel Grundversorgung für Asylwerber haben, ist ein Unsinn. Wir sind ein toll ausgebauter Sozialstaat, und da gibt es auch Trittbrettfahrer und Missbrauch, ich bin dafür, dass man solche Auswüchse eindämmt. Doch auf der anderen Seite: Auf jene, die nicht arbeiten dürfen, muss ich schon ein bisschen Rücksicht nehmen, auch wenn es "Fremde" sind.
Die Bundesregierung überlegt heute vor allem, wie man Flüchtlinge abschrecken könnte: mit Verschärfungen und Kürzungen von der Mindestsicherung bis hin zur Familienbeihilfe. Enttäuscht von der Regierung?
Es wird gerne behauptet, die Flüchtlinge würden vor allem durch unser gutes Sozialsystem angezogen. Von so einem "Pull-Faktor" zu reden, weil das Kindergeld in Österreich höher ist, halte ich für Schwachsinn. Jemand, der im Bombenhagel von Aleppo oder in Afghanistan lebt, wird sich nicht sehr lange überlegen, ob er da 100 Euro kriegt. Der wird nicht von einem "Pull-Faktor" angezogen, der hat "Push-Faktoren" zu Hause. Österreich ist ein friedliches Land, das ist wohl ein Hauptgrund, dass Menschen zu uns kommen wollen. Und sie erwarten natürlich auch, dass wir eine hoch entwickelte Zivilisation haben, Ausbildungsmöglichkeiten, Arbeitsplätze – in der Realität sind diese Hoffnungen manches Mal ein Wunschdenken. Doch das, was die Regierung da macht – auch unter dem Druck der FPÖ –, ist bis zu einem gewissen Grad Opportunismus.
Ist das noch Politik oder Populismus?
Eine Mischung aus Politik und Populismus. Man kann schon verschiedene Dinge ändern, aber man sollte dabei das Prinzip der Menschenwürde und der Gleichheit aller Menschen nicht aus den Augen verlieren.
Die ÖVP definiert sich noch immer als christdemokratische Partei. Inwiefern ist die Politik von Innenminister Sobotka oder Außenminister Kurz eigentlich christlich-sozial?
Ja, das ist eine Frage, die man sich stellen kann. Und soweit ich die beiden kenne, werden sie beide so antworten: Das ist christlich-soziale Politik. Es gibt andere, die haben da ihre Zweifel. Und manche Äußerungen, die da öffentlich kolportiert werden, kann ich auch nicht nachvollziehen. Aber viel wichtiger als Ankündigungen sind sinnvolle Umsetzungen. Und da, glaube ich, wissen alle in der Regierung, dass es noch viel Handlungsbedarf gibt, vor allem im Bereich der Integration.
Wie würden Sie christlich-soziales Denken heute definieren?
Viele Politiker lassen sich leider viel zu schnell von einem vermeintlichen Mainstream irgendwo hintreiben. Und wenn sie drei Mal dasselbe hören, glauben sie, das ist so. Ich habe zum Beispiel mit vielen Freunden aus dem Bereich der Jägerschaft oder von Raiffeisen harte Diskussionen über den Umgang mit den Flüchtlingen geführt. Und am Ende sind wir uns nicht immer einig geworden. Aber ich habe argumentiert, warum ich das so sehe, und versucht zu überzeugen. Das fehlt mir in der Politik. Jene Menschen aus der Zivilbevölkerung, die den Flüchtlingen einfach geholfen haben, haben nicht laut geschrien – sie haben getan. Das christlich-soziale Denken ist da, das leben viele, auch wenn manche es vielleicht anders nennen würden. In der Politik ist diese Haltung sehr wenig spürbar – ausgenommen Wiens Bürgermeister Michael Häupl, der allen Schutzsuchenden Hilfe angeboten hat, dafür wurde er auch bei der Wiener Wahl politisch belohnt. Ich muss allerdings sagen, dass ich auch die katholische Kirche als Institution während der Fluchtbewegung kritisch sehe, da war man manchmal nicht so christlich.
Inwiefern nicht christlich?
Ich habe mich mit diversen kirchlichen Würdenträgern unterhalten und ihnen gesagt, dass es in ihrem unmittelbaren Verantwortungsbereich Potenzial gäbe zu helfen. Die vielen Pfarrhöfe, immer wieder haben Menschen angerufen und gesagt, unser Pfarrhof steht schon lange leer, da könnte leicht eine Familie untergebracht werden. Manche konnten wir für Quartiere gewinnen, andere nicht. Auch bei den Klöstern hätte es mehr Möglichkeiten gegeben, als uns angeboten wurden. Kardinal Christoph Schönborn hat zwar dazu aufgefordert, andere Amtsträger waren aber zurückhaltender.
Sie haben Ihre Tätigkeit als Flüchtlingskoordinator nach einem Jahr beendet, obwohl Sie gerne weitergemacht hätten. Woran ist das am Ende gescheitert?
Nachdem sich die Lage geändert hatte, schlugen Ferry Maier und ich im Sommer 2016 vor, gemeinsam mit den NGOs, der Industriellenvereinigung, der Wirtschaft eine Plattform zu bilden und die Integration voranzutreiben, also alle staatlichen Integrationsbestrebungen, jene der NGOs und die der Privaten zusammenzuführen. Für diesen Vorschlag haben wir politisch keine Unterstützung gefunden, daher haben wir gesagt: Nein, lassen wir"s.
Waren Sie enttäuscht, nicht in Sachen Integration weitermachen zu können?
Für die Sache schon, weil ich glaube, dass der Bedarf da wäre. Ich hätte das auch gern gemacht. Aber wenn es keinen politischen Konsens gibt – als Spielball der Innenpolitik eigne ich mich nicht. Ich habe dann halt flapsig gesagt: 2015 im Herbst ist die Hirschbrunft und Niederwildjagd völlig an mir vorbeigegangen. Im Jahr 2016 war das anders.
Was haben Sie als Mensch aus dieser Zeit mitgenommen?
Mein persönliches Weltbild ist nicht durcheinandergekommen. Es hat sich allerdings in einigen Punkten verstärkt. Wenn man sieht, dass es Menschen gibt, die einfach sagen: Das geht mich nichts an. Auch im Freundeskreis. Vier Monate nach Beginn der ganzen Geschichte wurde ich privat bei jeder Einladung angesprochen: "Super, dass du das machst!" Dann habe ich gefragt: "Eh, und was machst du?" Und dann hörte ich Sachen wie: "Du, wir hätten da eigentlich freie Unterkünfte ..." Da dachte ich mir: Bist du eing’raucht oder was? Du weißt seit vier Monaten, dass wir suchen, und kommst jetzt daher? Aber im Grund weiß ich ja, wie die Leute sind. Und ich weiß auch wieder, wie viele Freunde ich habe – nämlich wenige. Viele, die jubeln, sind nicht da, wenn es darauf ankommt.
Über die Autoren:
FERDINAND „FERRY“ MAIER war von September 2015 bis September 2016 als Generalsekretär des Vereins „Österreich Hilfsbereit“ neben Christian Konrad als Flüchtlingsbeauftragter der Bundesregierung tätig. Von 1994 bis 2014 war der studierte Betriebswirt Generalsekretär des Österreichischen Raiffeisenverbandes, von 2002 bis 2012 Nationalratsabgeordneter der Österreichischen Volkspartei.
JULIA ORTNER ist Journalistin und beschäftigt sich schon seit vielen Jahren auch mit Flüchtlingspolitik, zuletzt als stellvertretende Chefredakteurin und Politik-Ressortleiterin des Magazins News. Davor war sie Redakteurin im Kernteam der Zeit im Bild 2. Vor ihrem Wechsel zum ORF arbeitete sie für die Wochenzeitung Falter, ihre Laufbahn hat Ortner 1998 bei der Tageszeitung Die Presse begonnen.
Ferry Maier und Julia Ortner:
„Willkommen in Österreich? Was wir für Flüchtlinge leisten können und wo Österreich versagt hat.“
Tyrolia Verlag, 19.95 EUR, ab 16. Juni im Buchhandel.
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