Christian Kern: "Unser Wohlstand steht auf dem Spiel"
Christian Kern arbeitete beim Stromkonzern Verbund, war Chef der ÖBB, dann Kanzler. Derzeit ist er in mehreren Ländern im Sektor der erneuerbaren Energie tätig. Der KURIER traf Kern an seinem Sommerdomizil in Millstatt.
KURIER: Herr Kern, Sie äußern sich in sozialen Medien sehr kritisch, wie die Regierung mit der Energiekrise umgeht. Warum?
Christian Kern: Ich will die Bundesregierung nicht in Grund und Boden kritisieren, denn es ist tatsächlich eine komplexe Herausforderung. Aber wir arbeiten an Minimallösungen und haben das große Ganze aus dem Blick verloren. Eine Verzehnfachung der Energiepreise, wie wir sie teilweise haben, ist ein sozialer Zerstörungsakt. Da nicht einzuschreiten, ist der Grund für mein Unbehagen.
Wie schreitet man Ihrer Meinung nach richtig ein?
Wenn Gaskraftwerke sehr teuer Strom produzieren, profitieren alle anderen Stromerzeuger mit, weil sich der Preis am teuersten Produzenten orientiert. Mein altes Unternehmen, der Verbund, produziert etwa 30.000 Gigawattstunden Wasserkraft in einem Jahr. Die Preise haben sich von 55 auf rund 400 Euro pro Megawattstunde erhöht. Der Wert der Eigenproduktion von Strom aus Wasserkraft ist um zehn Milliarden höher als vor einem Jahr, ohne dass die etwas besser machen. Zehn Milliarden Euro. Das ist kein Vorwurf an das Management, sondern an die Politik. Wenn die jetzt sagt, wir machen 400 Millionen Euro Sonderdividende, ist das, gelinde gesagt, ein bisschen kurz gesprungen. 400 Millionen versus 10.000 Millionen.
Von den hohen Preisen profitieren auch die Anbieter von Wind- und Sonnenstrom.
Das ist noch schlimmer. Diese Anlagen wurden gebaut mit finanzieller Stützung durch alle Stromkunden. Jetzt gehen die Strompreise durch die Decke und die Betreiber sagen: Danke, dass Ihr uns die fixen Abnahmeverträge angeboten habt, aber wir verkaufen jetzt lieber zum achtfachen Preis auf dem Strommarkt. Die Verluste trägt die Gemeinschaft, und wenn die Preise hoch sind, kassieren die Privaten. Und das in einer Lage, wo viele Haushalte nicht mehr in der Lage sind, ihren täglichen Bedarf zu decken.
Welche Lösungen gibt es?
Der Bund könnte vorübergehend als Gaseinkäufer auftreten und dieses Gas zu gestützten Preisen an Kraftwerke und Verbraucher weitergeben. Das kostet Geld, ja. Aber man beeinflusst damit nicht nur die Gaspreise, sondern durch den beschriebenen Mechanismus wird auch der Strompreis runtergezogen. Mit einem Euro Steuergeld könnte man zwei Euro Energiekosten sparen.
Was halten Sie von dem geplanten Strompreisdeckel?
Der ist eine temporäre Minimallösung, wenn man keine andere Idee hat. Kreativ ist das wahrscheinlich nicht.
Die UNO ruft auf, die Übergewinne der Energiekonzerne abzuschöpfen. Wie könnte das gehen?
Eine simple Variante wäre, pro produzierter Kilowattstunde aus Wasser oder Wind zumindest vorübergehend eine Abgabe zu erheben. Man könnte damit mehrere Dinge tun: Den Leuten, die es nötig haben, finanziell unter die Arme greifen. Wirklich gute Förderungen für den beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energie aufsetzen. Und für die Energiewende wesentliche Industrien wie Fotovoltaik- und Batterieerzeuger wieder in Europa und Österreich ansiedeln, um uns weniger abhängig von asiatischen Lieferanten zu machen.
Man braucht schnell neue Energie. Wie kann man das beschleunigen?
Das muss generalstabsmäßig nach einem umfassenden Masterplan erfolgen. Da muss das ganze Land dahinter stehen und die Finanzierung darauf ausgerichtet sein. Der fehlt. Bei uns gibt es immer noch Landesräte, die erklären, sie bräuchten das nicht, denn ihr Land sei energieautark. Das ist absurd. Es müsste einen Konsens geben, dass drei Prozent der Fläche in jedem Bundesland der Fotovoltaik und Windparks gewidmet sind. Man müsste eine zentrale Behörde schaffen mit einem Regierungsbeauftragten, der die Energiewende durchzieht. Es geht inzwischen um nicht weniger als um den Wohlstand, den wir in den letzten 70 Jahren aufgebaut haben. Der steht gerade auf dem Spiel.
Wie beurteilen Sie das Vorgehen von Energieministerin Leonore Gewessler?
Wir pflegen einen guten Austausch. Sie hat einen sehr schwierigen Job, sie spricht auch zu Recht von Versäumnissen der Vergangenheit, da nehme ich SPÖ-Regierungen, meine inklusive, nicht aus.
Finanzminister Brunner nennt Gewinnabschöpfungen eine Strafsteuer.
Das ist Ideologie und dem Problem nicht angemessen. Wenn die Energiekonzerne zehn, 20 Prozent mehr Gewinne haben – geschenkt. Aber 400, 500 Prozent sind obszön. Es ist eine Mär, dass diese Gewinne in den Ausbau der Erneuerbaren investiert werden.
Was erwartet uns im Herbst? Ich fürchte, dass man den Leuten ein paar Wahrheiten wird zumuten müssen. Man wird Temperaturlimits brauchen, Tempolimits und Rationierungen in der Industrie diskutieren müssen. Es hat keinen Sinn, das rauszuschieben. Wir wissen ja, dass wir auf ganz dünnem Eis tanzen.
Ihre Partei forciert einen Spritpreisdeckel von 1,50 Euro. Haben Sie an dem Konzept mitgearbeitet?
Nein. Für Pendler sind Spritpreise wichtig, aber dafür gibt es Instrumente. Das sehe ich nicht als Priorität.
Es gibt auch den Vorwurf mangelnder Treffsicherheit, dass das SUV-Fahren in der City auch begünstigt wird.
Das ist auch eine berechtigte Kritik.
Ministerin Gewessler hat ein Klimaticket eingeführt. Jetzt gibt es bei den ÖBB mehr Kundschaft als Waggons. Haben Sie als Generaldirektor da etwas verabsäumt?
Wir hatten damals schon ein riesiges Investitionsprogramm. Das Hauptproblem bei der Bahn ist, dass Europa bis heute keine Vollautomatisierung der Infrastruktur geschafft hat. Damit könnte man nämlich in kürzeren Intervallen mit mehr Zügen fahren.
Es gibt wieder einmal eine Kanzlerdebatte. Hat ein Austausch einen Sinn?
Das löst kein einziges Problem in diesem Land. Dass die ÖVP ein gewaltiges Problem hat, muss nicht extra besprochen werden. Man muss allgemein die Sorge haben, ob die Zentrumsparteien die Kraft haben, die Probleme zu lösen. Denn es wird an den Rändern politischen Aufwind geben. Das erfordert ein starkes Zentrum. Man kann sich nur wünschen, dass sich SPÖ und ÖVP gut entwickeln.
Die SPÖ arbeitet dem Vernehmen nach an einer personellen Teamlösung. Werden Sie Teil davon sein?
Nein.
Wollen Sie sich gar nicht mehr politisch betätigen?
Doch. Die Herausforderungen sind dermaßen komplex, dass man sie nicht den Berufspolitikern überlassen sollte. Das sehe ich als Aufforderung zum zivilgesellschaftlichen Engagement, aber das heißt ausdrücklich nicht, dass ich ein politisches Amt übernehmen möchte. Ich möchte zu Lösungen beitragen. Zum Beispiel, indem ich Interviews wie dieses gebe.
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