Hitlers Griff nach seiner Heimat
Der 11. März 1938 war ein Freitag. Am Sonntag darauf, dem 13. März, sollte eine österreichweite Volksabstimmung stattfinden – mit der Frage, ob Österreich frei und unabhängig bleiben soll.
In den Straßen Wiens und in den Bundesländern machten die Parteien mit Plakaten und Parolen auf Klein-Lkw Propaganda: Die Anhänger der Vaterländischen Front und Arbeiter-Vertreter für die Eigenständigkeit Österreichs, Trupps von österreichischen Nationalsozialisten für ein Nein.
Am 11. März, um 19.47 Uhr, wandte sich Bundeskanzler Kurt Schuschnigg in einer Radioansprache an die Österreicher – eine denkwürdige Rede. Schuschnigg erklärte, dass er „der Gewalt weichen“ werde. Er beendete seine Rücktritts-Rede mit den Worten: „Gott schütze Österreich“.
Doch Bundespräsident Wilhelm Miklas weigerte sich trotz mehrerer Ultimaten Berlins, den Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart als Nachfolger zum Kanzler zu ernennen. Erst gegen Mitternacht gab Miklas nach. Adolf Hitler hatte sein Ziel erreicht: Die Nationalsozialisten hatten die Regierungsmacht in Österreich erobert.
Wenige Stunden später, um 5.30 Uhr des 12. März 1938, überschritten die ersten Hitler-Truppen die Grenze zu Österreich: Rund 65.000 Soldaten der deutschen Wehrmacht, Tausende Polizisten und 16.000 Sicherheitsleute besetzten Österreich. In der Nacht zum 13. März erreichten die ersten Einheiten Wien.
Da die Hitler-Truppen auf keinen Widerstand stießen, sondern von jubelnden Österreichern empfangen wurden, entschloss sich Hitler spontan, in seine alte Heimat zu reisen. Er fuhr am 12. März gegen 16 Uhr bei seinem Geburtsort Braunau über die Grenze. Am Abend wurde er in Linz umjubelt.
Hitler-Reden
Schon in Linz verkündete Hitler den „Anschluss“ Österreichs. Drei Tage später, am 15. März, folgte sein Auftritt am Wiener Heldenplatz. Vor 250.000 Menschen – teils Nazi-Anhänger, aber auch viele Schulklassen und Firmen-Belegschaften, die den Heldenplatz füllen mussten – verkündete er von der Hofburg aus den „Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich“.
Der „Anschluss“ war vollzogen. Dabei: Nüchtern betrachtet war das eine militärische Besetzung Österreichs durch den Nachbarstaat und eine Zwangseingliederung in das NS-Reich. Das Argument, Österreich sei „das erste Opfer Hitler-Deutschlands“ gewesen, diente aber nach 1945 manchem Österreicher als billige Ausrede.
Eine Angliederung an das Deutsche Reich war schon im Zerfall der Habsburger Monarchie in Diskussion. 1918 hielten viele Österreicher diesen Staat, den sie anfangs „Deutschösterreich“ nannten, für nicht lebensfähig. Aber dieser Staatsname wurde im Friedensvertrag von Saint-Germain 1919 von den Siegermächten ebenso verboten wie ein Anschluss Österreichs an Deutschland.
Der anfängliche Jubel über den „Anschluss“ und Österreichs Umwandlung in die „Ostmark“ blieb vielen Österreichern aber schon bald im Hals stecken. Die „Reichsdeutschen“ machten kurzen Prozess. Sie besetzten die Schlüsselstellen in Politik und Wirtschaft. Sie plünderten den Gold- und Devisenschatz der Nationalbank. Sie gliederten Bundesheer und Polizei sofort ein. Und sie waren radikal in der Verfolgung politischer Gegner: In den ersten sechs Wochen nach dem Einmarsch wurden bis zu 76.000 Personen verhaftet. Am 1. April wurden im ersten „Österreicher-Transport“ 151 hochrangige Politiker, Beamte und Funktionäre in das KZ Dachau verschickt. Kurz danach begannen die Arbeiten für das KZ Mauthausen, wo bis Kriegsende 1945 100.000 Menschen ermordet wurden.
Noch vor den ersten regulären Einheiten der Wehrmacht waren im Morgengrauen des 12. März auf dem Flughafen Aspern der Reichsführer SS Heinrich Himmler, der Leiter des Sicherheitsdienstes SS Reinhard Heydrich samt 50 SS-Männern gelandet. Sie begannen gezielt mit der Verfolgung ihrer Gegner und der jüdischen Bevölkerung.
„Reibpartien“
Jüdinnen und Juden mussten unter dem Gejohle des Wiener Mob Hauswände und Gehsteige mit Zahnbürsten von Parolen für Schuschniggs Volksabstimmung säubern. Am 10. April ließ Hitler ein eigenes Referendum über den „Anschluss“ abhalten: Laut NS-Propaganda mit 99,8 Prozent Ja.
Im Gefolge Himmlers und Heydrichs kam auch Adolf Eichmann nach Wien. Er errichtete hier die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“, die eine planmäßige Vertreibung von rund 120.000 der 190.000 in Wien lebenden Juden organisierte. Eichmanns Wiener Modell wurde dann im ganzen NS-Reich umgesetzt.
Die SS musste ihr Vorgehen gar nicht rechtfertigen: Die „Arisierungen“, Enteignung jüdischen Besitzes, und die Plünderungen jüdischer Geschäfte nahmen in Wien ein solches Ausmaß an, dass Berlin die NS-Behörden anweisen musste, den Wiener Mob zu bremsen.
Außerdem drängten die Österreicher in Massen in die NSDAP. Von denen, die in Österreich nach dem Verbot der Nationalsozialisten 1933 illegal in die NSDAP eingetreten waren, wurden rund 38.000 als Parteimitglieder anerkannt. Im November 1938 gab es in der „Ostmark“ schon mehr als 127.000 NSDAP-Mitglieder.
Nach dem Krieg wurden in Österreich fast 542.000 ehemalige NSDAP-Mitglieder registriert, davon galten mehr als 43.000 als SS-Angehörige oder hochrangige NS-Funktionäre. Nimmt man auch die Familienangehörigen der Parteigänger, so war rund ein Viertel der österreichischen Bevölkerung in der NS-Zeit in der Nazi-Partei.
1933
30. Jänner: Hitler wird deutscher Reichskanzler4. März: Ausschaltung Parlament – Diktatur unter Dollfuß19. Juni: Verbot NSDAP nach Terrorwelle
1934
12. Februar: Sozialdemokratischer Aufstand gegen Dollfuß-Diktatur, Bürgerkrieg16. Februar: Verbot Sozialdemokratische Partei15. Juli: „Juli-Putsch“ – Illegale Nationalsozialisten stürmen Kanzleramt und töten Dollfuß
1936
11. Juli: „Juli-Abkommen“ – Schuschnigg muss zwei „nationale“ Minister in Regierung aufnehmen
1938
12. Februar:„Berchtesgadener Abkommen” Hitler erzwingt weitere Zugeständnisse, Nationalsozialist Seyß-Inquart wird Innenminister9. März:Schuschnigg kündigt Volksbefragung über Unabhängigkeit Österreichs an11. März:Schuschnigg sagt nach deutschem Ultimatum Volksbefragung ab und tritt zurück: „Gott schütze Österreich“. Seyß-Inquart wird Regierungschef. Hitler ordnet Einmarsch an12. März:Deutsche Truppen überschreiten ohne Gegenwehr die österreichische Grenze15. März:Hitler verkündet auf dem Heldenplatz den „Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich“10. April:Bei „Volksabstimmung” votieren nach offiziellen Angaben 99,75 % der Österreicher für „Anschluss“
Die Folgen der NS-Herrschaft für Österreich waren erschütternd, die Opferzahlen können nur annähernd geschätzt werden.
Von mehr als 190.000 Juden, die vor 1938 in Österreich lebten, wurden über 120.000 in die Emigration getrieben. Mehr als 66.000 Juden wurden ermordet. Dazu kommen 30.000 „Euthanasie-Opfer“ und 15.000 weitere Tote, darunter 9000 Roma sowie Zeugen Jehovas und Homosexuelle.
Rund 2700 Frauen und Männer wurden im Widerstand gegen das NS-Regime hingerichtet.
Rund 240.000 Österreicher starben als Soldaten im Zweiten Weltkrieg, 117.000 wurden verwundet, 76.000 vermisst. Unter der Zivilbevölkerung gab es bei Luftangriffen und anderen Kriegshandlungen mehr als 24.000 Todesopfer.
Doch schon vor dem „Anschluss“ forderte der NS-Terror in Österreich zahlreiche Opfer: Mehr als 800 wurden in der Zeit von 1933 bis 1938 durch NS-Anschläge getötet oder dabei verletzt.
Der Ständestaats-Kanzler Engelbert Dollfuß wurde am 25. Juli 1934 bei einem NS-Attentat getötet – das erste österreichische NS-Todesopfer auf Regierungsebene.
Im Visier
Ein anderes NS-Opfer der Ständestaats-Regierung ist fast vergessen: Es handelt sich um den Generalprokurator und Justizminister der Regierung Schuschnigg, Robert Winterstein.
Winterstein, einziges jüdisches Regierungsmitglied, wurde schon vor dem „Anschluss“ gewarnt. Er hatte als Generalprokurator die Untersuchung des Dollfuß-Mordes 1934 geleitet. Die NS-Führung wollte verschleiern, dass sie hinter dem Mordanschlag stand. Winterstein suchte noch am 12. März 1938 um Pensionierung an. Drei Tage später wurde er verhaftet. Im Herbst 1938 wurde er in das KZ Buchenwald deportiert und dort im April 1940 erschossen.
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