50.000 sagen Nein zur Zentralmatura

50.000 sagen Nein zur Zentralmatura
Die Ergebnisse der Mathematik-Schularbeiten sind katastrophal, weil sie nach dem neuen Benotungssystem bewertet wurden. Schüler und Eltern wehren sich.

Stell dir vor, es ist Matura und keiner geht hin. Ein Szenario, das 2015 Realität werden kann. Denn der Unmut über die Zentralmatura und ihre Auswirkungen auf die Schüler ist immens. Und wächst derzeit rasant weiter.

Ihren Frust verlautbaren alle Beteiligten via Facebook: Mehr als 50.000 Schüler, Eltern und Lehrer haben schon per Knopfdruck ihren Protest gegen die „schlecht vorbereitete Matura“ eingelegt. Vor allem in den vergangenen zwei Wochen wurde die Empörungswelle immer stärker, weil bei den ersten Schularbeiten deutlich wurde, dass jene Schüler, die 2015 zur Zentralmatura in Mathematik antreten müssen, mangelhaft vorbereitet sind. Die Initiatoren des Protests hoffen, dass diese Welle bis ins Ministerium schwappt. Mit den dort Zuständigen wollen die Schüler-Vertreter über die Probleme verhandeln. Wenn sie kein Gehör finden, wird es Demonstrationen oder gar Schülerstreiks geben.

Florian und Lorenz haben zum Beispiel die Facebook-Seite „Zentralmatura, nein danke“ gegründet, eine von drei großen Protestgruppen. „Das war bereits im Juni, weil wir da schon die Probleme auf uns zukommen sahen“, sagen die zwei Schüler aus Niederösterreich, die nicht mit vollem Namen in der Zeitung stehen wollen. „Damals war das Echo gering. Nur 60 Personen haben auf den ,Gefällt mir‘ -Button gedrückt.“

Erste Messlatte

Vor zehn Tagen begann der große Boom. „An einem Tag gab es 6000 Likes, am nächsten 14.000. Mittlerweile sind es allein auf unserer Seite 25.000“, berichten sie. „Die meisten erkennen das Problem erst jetzt.“ Warum? „Die Schüler der 7. Klassen haben erstmals Schularbeiten geschrieben und zurückerhalten, die nach dem Benotungsschlüssel bewertet wurden, der auch bei der Zentralmatura angewendet wird.“ Über Facebook haben die Schüler erfahren, dass die Ergebnisse an anderen Schule ebenfalls miserabel sind. „Wir wissen von 70 bis 100 Schularbeiten, die allein im Fach Mathematik wiederholt werden müssen.“ Das heißt, in diesen Klassen hat mindestens die Hälfte ein „Nicht genügend“.

Der Grund des schlechten Abschneidens ist aus Sicht der Schüler das „absurde Benotungssystem“. Peter Friebel, Mathematiklehrer an der AHS Keimgasse in Mödling (NÖ), erklärt es: „Die Arbeiten sind zweigeteilt. In Teil 1 sollen Schüler zeigen, dass sie einfache Grundkompetenzen beherrschen. Rund zwei Drittel dieser Aufgaben müssen richtig gelöst sein, um eine positive Note zu bekommen. An sich nicht so schwierig. Aber: Macht ein Schüler innerhalb der Aufgabe den kleinsten Fehler, bekommt er für die gesamte Aufgabe keinen Punkt. Schnell hat man auf den ersten Teil weniger als zwei Drittel der Punkte. Auf den Test gibt es einen Fünfer – auch dann, wenn der Schüler im schwierigeren Teil 2 alles richtig hat.“

Was das in der Praxis heißt, wissen Florian und Lorenz: Bei derselben Schularbeit erreichten zwei Schüler 24 Punkte. Einer bekam einen Dreier, der andere einen Fünfer. Ein dritter Schüler bekam sogar mit 31 Punkten einen Fünfer.

Lehrer Friebel weist darauf hin, dass man wieder auf ein System zurückkomme, das man vor 50 Jahren abgeschafft habe: „Schularbeiten wurden nur als falsch oder richtig bewertet. Doch das ist extrem ungerecht.“ Er übt Kritik am Ministerium und dem BIFIE, das die Matura entwickelt hat: Lehrer bekamen die Fortbildungen zur Umstellung des Unterrichts erst vor ein bis zwei Jahren. Dazwischen gab es immer wieder Änderungen.

Das größte Problem sehen Schüler, Eltern und Lehrer in dieser schlechten Vorbereitung. Florian und Lorenz sehen sich als schwächstes Glied der Kette: „Die Lehrer bekommen ein Zeugnis, wie gut ihre Schüler abgeschnitten haben. Sie haben Angst davor, dass ihr Vorgesetzter sie zur Verantwortung zieht. Deshalb geben sie den Druck weiter.“ Also sortieren sie jene Schüler, die mit dem neuen System nicht von selbst umgehen können, lieber vor der Matura aus. Manch Lehrer habe sich zu Sätzen hinreißen lassen wie: „Ich kann auch mit nur acht Schülern zur Matura antreten.“

Kein Stress

Friebel glaubt nicht daran, dass seine Kollegen solchen Druck ausüben: „Die sehen ja, wie es ihren Schülern geht. Sie wollen sie doch nicht noch zusätzlich beunruhigen und Stress machen.“

Dass die Schüler unruhig werden, stellen auch die Schülervertreter fest. Bundesschulsprecherin Angi Groß erzählt: „Die Schüler sind stark alarmiert. Ich bekomme aus ganz Österreich Meldungen, dass wir aktiv werden müssen.“ Eine von ihnen ist Caroline Embacher vom Bundesgymnasium Zaunergasse in Wiener Neustadt: „Es müssen jetzt schnell Lösungen vom Ministerium und unseren Lehrern kommen. Mir ist es lieber, wir verschieben die Matura um ein Jahr, bevor ich unvorbereitet maturieren muss.“

Eltern betroffen

Der Stress der Schüler wirkt sich natürlich auch auf die ganze Familie aus, weshalb auch die Elternvertreter alarmiert sind. So wie Susanne Schmid aus dem Burgenland: „Das Ministerium und das BIFIE sprechen lediglich von einer Holschuld der Lehrer. Diese müssten sich halt auf der Homepage informieren. Uns Eltern reicht es. Wir werden nicht zulassen, dass unser Kinder die Opfer eines Reformwahns einer Ministerin werden. Wir werden nicht zulassen, dass unsere Kinder psychisch zerstört werden wegen maturakonformen Schularbeiten.“

Der Unmut unter einigen Elternvertretern ist bereits so groß, dass sie Anwälte damit beauftragt haben, rechtliche Schritte zu prüfen.

Die Menge und Intensität der Proteste hat eine kritische Marke erreicht. Auf die KURIER-Nachfrage beim Unterrichtsministerium, wie es auf die Sorgen und drohenden Maßnahmen von Eltern und Schülern reagieren wird, kam bis Freitagabend keine Antwort.

Er ist das Gesicht der Mathematik in Österreich. Rudolf Taschner hat zahlreiche Bücher über die Welt der Zahlen geschrieben. Der Universitätsprofessor hat selbst einige Jahre in einem Gymnasium unterrichtet und verfolgt die Debatte um die Zentralmatura deshalb ganz genau.
Die Idee, dass es einheitliche Standards für alle Schüler gibt, findet der Mathematiker grundsätzlich gut: „So wird garantiert, dass Lehrer das Niveau nicht zu niedrig ansetzen.“ Den politisch Verantwortlichen rät der Mathematiker aber, das derzeitige System abzuschwächen: „Die teilzentrale Matura wäre die ideale Lösung in der jetzigen Situation. Ein neuer Minister könnte hier einen Akzent setzen und damit die Herzen der Schüler, Eltern und Lehrer gewinnen.“ Auch wenn dann einige Experten sagen, eine solche Matura sei nicht valide.
Und welches Wissen soll zentral geprüft werden? Laut Taschner jene Kompetenzen, die man braucht, um die Zukunft meistern zu können. „Ich würde mit Experten aus der Wirtschaft, der Arbeiterkammer, den Gewerkschaften usw. reden und fragen: Was sind die basalen Fähigkeiten, die nötig sind, um in der Welt bestehen zu können?“ Daraus resultierend schafft man einen Kanon.

Risiko einschätzen

Prozentrechnen und Schätzen gehört für den Mathematiker genauso dazu wie der Satz des Pythagoras oder Statistik. Ein Schüler sollte auch die Kubatur berechnen können, wenn der Durchmesser größer wird. In diesen Tagen besonders wichtig sind finanztechnische Fragen: Ein Erwachsener muss das Risiko bei einer Kreditaufnahme oder einer Geldanlage richtig einschätzen können.
All diese Grundkompetenzen sollten seitens des Staates festgelegt werden. Bei der Matura gibt der Staat dann zwei Aufgaben vor. Die sind die Pflicht. Zwei weitere Aufgaben werden von der Schule gestellt. Die sind die Kür. „Diese Vorgehensweise würde das Selbstwertgefühl der Lehrer stärken. Die Schulen könnten besser Schwerpunkte setzen und auf Stärken der Schüler eingehen.“
Die zentral gestellten Fragen müssten so gewählt werden, dass man einfache Antworten geben kann: „Von mir aus auch Multiple Choice. Dabei habe ich allerdings das Problem, dass es sehr schwierig ist, eindeutige Fragen zu stellen. Denn die Nomenklatur der Mathematik ist nicht eindeutig. Bezeichnungen sind zum Teil unterschiedlich. Das heißt, man muss die banalen Grundbeispiele in einer Sprache formulieren, die Alltagssprache ist. “
Ein großes Problem von zentralen Prüfungen sei auch die unterschiedliche Qualität von Schulen und Lehrern: „Frankreich löst das indem die Schüler jedes Jahr einen anderen Lehrer bekommen. Eine Beziehung zum Pädagogen wird so nicht aufgebaut.“

Die Idee

2006 verkündete Ministerin Elisabeth Gehrer die Idee einer zentralen Reifeprüfung. Es war die Aufgabe ihrer Nachfolgerin Claudia Schmied, diese umzusetzen.

2008 Die Vorbereitungen der Matura verlaufen schleppend. Ministerin Schmied sagt zu, dass ein vierjähriger Oberstufen- Durchgang abgewartet werde, bevor die erste Reifeprüfung nach dem neuen Modell stattfindet.

2010 Die Zentralmatura wird gesetzlich verankert.

2012 Der für die Zentralmatura zuständige Direktor Josef Lucyshyn wird abberufen. 2012 Erstmals erscheint die „Prüfungsordnung AHS“ 2012: Die Zentralmatura wird auf Druck von Eltern, Schülern und Lehrern um ein Jahr verschoben. Ihre Warnungen von damals sind jetzt eingetreten.

Betroffene Schüler

2010 haben 18.566 AHS-Schüler und 23.827 Schüler an berufsbildenden höheren Schulen maturiert. In der AHS gilt die neue Reifeprüfung ab 2015, in den BHS erst ein Jahr später.

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