Gericht: Hungerstreik wegen Schuldgefühl

Gericht: Hungerstreik wegen Schuldgefühl
Eine junge Frau isst nicht mehr, bis ihr Stiefvater aus der Haft kommt: Sie bestraft sich, weil sie ihn verleumdet habe.

 

Sie wiegt 33 Kilogramm. „Ich hab’ mein Leben aufgegeben“, sagt Michelle Moreno, 25. „Das Einzige, was ich noch will, ist, dass er heimgeht." Er, das ist Hans, bald 50, der frühere Lebensgefährte von Michelles Mutter. „Der Papa“, sagt die junge Frau, wenn sie von Hans spricht. Aber „der Papa“ sitzt im Gefängnis. Acht Jahre Haft bekam er 2008 im Grazer Straflandesgericht. „Wegen mir“, sagt Michelle und ihre Stimme wird brüchig. „Ich wollt’, dass er weg ist.“ Also habe sie erzählt: Der Stiefvater habe sie missbraucht, später vergewaltigt, als sie zwischen sieben und vierzehn Jahre alt war.

Das sei aber eine Lüge gewesen, behauptet sie heute. „Ich hab’ sein Leben auf dem Gewissen, ich hab’ ihm die Jahre genommen.“ Damit komme sie nicht klar, sagt die junge Frau: Seit Jahren isst sie kaum, seit Monaten verweigert sie feste Nahrung.

Schlaganfall

Gericht: Hungerstreik wegen Schuldgefühl

Eine Bestrafung, selbst gewählt. Michelle bezahlte bereits teuer: Vor sieben Wochen hatte die 25-Jährige laut ihrer Anwältin einen Schlaganfall. Sie war im Koma, als sie aufwachte, war sie kurzzeitig blind.

Die Grazer Rechtsanwältin Karin Prutsch hat aufgrund von Michelles Aussage als einen Enthaftungsantrag gestellt sowie Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens, bedingte Entlassung und Hemmung des Strafvollzuges. „Die junge Frau will erreichen, dass mein Mandant freikommt“, betont die Juristin, die Michelle für glaubwürdig hält. Sie hat mit ihr eine eidesstattliche Erklärung verfasst und auf Video festgehalten.

Randale

Wer Michelle nach dem Grund für die angebliche Verleumdung fragt, bekommt ihre Familiengeschichte zu hören. Sie stamme aus schwierigen sozialen Verhältnissen, ihre Familie sei mit Hans nie gut zurechtgekommen.

„Manchmal hat er randaliert, vor allem, wenn er getrunken hat. Dann hat er Sachen herumgeschmissen.“ Sie, die älteste Tochter, sei Puffer zwischen Mutter, den Geschwistern und dem Stiefvater gewesen. Ausziehen sei deshalb nicht möglich gewesen. „Da hab’ ich mir gedacht, wenn er weg ist, kann ich auch gehen.“

Im Kinderheim, in das sie früher oft abgeschoben worden sei, habe sie von traumatisierten Kindern gehört, verursacht durch Missbrauch. Also habe sie einer Freundin erzählt, sie sei missbraucht worden. Die ging zur Polizei und zeigte das an. „Ich hätt’ mich das gar nicht getraut, es hat ja nicht gestimmt“, sagt Michelle.

Das Gericht glaubte ihr, die Gutachter attestierten Michelle ebenfalls, traumatisiert zu sein. Hans, bereits vorbestraft, wurde verurteilt.

Jetzt wird die 25-Jährige erneut von einem Psychologen untersucht: Wegen des Wiederaufnahmeantrages hat das Gericht ein neuerliches Gutachten in Auftrag gegeben, bestätigt Sprecherin Sandra Berzkovics. „Es liegt allerdings noch nicht vor. Sobald es da ist, wird über den Fortgang des Verfahrens entschieden.“

Nachgefragt: „Erst wenn er rauskommt, will ich wieder leben“

Michelle Moreno spricht über ihre Beweggründe und die Magersucht.

KURIER: Weshalb ziehen Sie Ihre Aussage plötzlich zurück?

Michelle Moreno: Weil sie falsch war. Er hat das nicht getan, er hat mich nie angegriffen. Er hat das ja auch immer gesagt, dass er das nicht getan hat. Er hat gesagt, Kinderschänder sind Ratten.

Warum kommt Ihr Sinneswandel erst jetzt?

Ich kann damit nicht mehr leben. Erst wenn er wieder rauskommt, will ich wieder leben.

Sie sind magersüchtig. Wie hängt das mit Ihrem Stiefvater zusammen?

Ich hab’ kein Leben mehr. Ich will nicht sein Leben auf dem Gewissen haben. Ich kann nicht mehr essen.

Haben Sie mit Ihrem Stiefvater seit der Verurteilung einmal gesprochen?

Nein. Aber jetzt haben wir einen Antrag gestellt, ich glaube, er würde meinen Besuch annehmen.

Sollte der Wiederaufnahmeantrag durchgehen und Ihr Stiefvater freikommen was würden Sie dann tun?

Ich mache eine Therapie, allein gesund werden kann ich nicht, ich glaub’, ich vertrag’ ja kein Essen mehr. Aber dann würd’ ich mit ihm essen gehen.

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