Bedrohte Chinesen in Migrantenvierteln
Nur wenige wissen es, aber Paris ist auch die größte so genannte „chinesische Stadt“ Europas: gleich mehrere innerstädtische Viertel und Teile der Vororte wurden von alten und neuen Einwanderungswellen aus China, Vietnam, Kambodscha und Laos geprägt. In der Öffentlichkeit sorgen diese „asiatischen Migranten“ (wie sie in Frankreich bezeichnet werden) meistens für wenig Aufsehen. Neuerdings aber rücken sie ins Rampenlicht, weil sie in einem bisher unbekannten Ausmaß zu Opfern von immer brachialeren kriminellen Angriffen werden.
Am vergangenen Sonntag entlud sich ihre Empörung und Angst in einem Mega-Aufmarsch zehntausender Personen in Paris. Die Demo stand unter dem Slogan „Sicherheit für alle“. Frankreichs Flagge wurde tausendfach hochgereckt, aber es gab fast nur asiatische Teilnehmer.
Gewaltorgien
„In meinem Bekanntenkreis gibt es niemanden, der nicht schon überfallen wurde“, erzählt ein Demonstrant, der 25 jährige Informatik-Student Laurent Phung, der wie die meisten Kinder oder Kindeskinder asiatischer Einwanderer einen französischen Vornamen trägt. Eine neben ihm marschierende Ärztin berichtet: „Ich muss täglich Opfer von Angriffen versorgen. Schwangere Frauen, Kinder, alte Leute, die misshandelt wurden. Früher wollten die Angreifer nur an Handtaschen, Handys und vermutetes Bargeld heran. Aber jetzt kommt es zu Gewaltorgien“. Und eine junge Frau ergänzt: „Ich gehe Abends nicht mehr aus und meine Kinder lasse ich auch nicht mehr alleine auf die Straße“.
Das Fass zum Überlaufen brachte der Tod eines 49 jährigen Schneiders, Schaolin Zhang, Anfang August. Der Mann war mit einem Freund im Vorort Aubervilliers zu Fuß unterwegs, als sie von drei – inzwischen festgenommenen – Jugendlichen angegriffen wurden. Diese schlugen auf den Freund ein und versuchten ihm seine Umhängetasche zu entreißen. Zhang ging dazwischen, ihm wurde ein Fußtritt gegen das Brustbein versetzt und er schlug hart auf dem Boden auf. Er verschied nach fünf Tagen im Koma. In der erbeuteten Umhängetasche befanden sich eine Packung Bonbons, Brillen und Zigaretten. Der Sohn von Zhang war seit seiner Ankunft in Frankreich 2004 bereits vier Mal überfallen worden, das letzte Mal entriss ihm eine fünfköpfige Gruppe seine Brieftasche, die zehn Euro enthielt.
Rassistische Klischees
„Wir sind Opfer eines rassistischen Klischees, das besagt, dass wir alle reich wären. Wir würden allesamt viel Bargeld mit uns tragen. Aber die meisten, die in den Vororten wohnen sind arm, sonst würden sie wegziehen“, erklärt Rui Wang, Vorsitzender „Vereinigung der jungen Chinesen Frankreichs“. Tatsächlich sind etliche der Überfallsopfer Ersteinwanderer, die kaum Französisch sprechen und oft über keine Aufenthaltsgenehmigung verfügen und daher den Weg zur Polizei scheuen. Aber auch jene, die versucht haben, Anzeige zu erstatten, wurden in Kommissariaten oft hingehalten und entmutigt.
Der Tatort, die Vorstadt Aubervilliers, ist zu einem europa-weit bekannten, dynamischen Zentrum für Konfektion geworden, das vornehmlich Migranten aus der Region um die chinesische Stadt Wenzhou hochgestemmt haben. Zahllose Läden von Grossisten reihen sich aneinander, im Hintergrund gibt es Schneiderwerkstätten. Einige Einwanderer sind zu Reichtum gekommen, aber vor Ort befinden sich hauptsächlich Kleinunternehmer, Angestellte und Tagelöhner.
Der vormalige SP-Bürgermeister von Aubervilliers hat die Partnerschaft mit Wenzhou gezielt vorangetrieben, und so aus dem Pariser Vorort eine wichtige Handelsplattform gemacht. Aber die nunmehrige Kriminalität bedroht den Standort, es kommen immer weniger Chinesen. Auch die jetzige KP-Bürgermeisterin, die Franko-Maghrebinerin Meriem Derkaoui, die an der Pariser Demo teilgenommen hat, bestätigt: „Gewisse Verbrecher nehmen gezielt die asiatische Community ins Visier“. Derkaoui beklagt einen allgemeinen Mangel an Polizeipräsenz, der alle Einwohner treffe: „In Aubervilliers haben viele Menschen schon seit Monaten keinen Polizisten mehr zu Gesicht bekommen“. Innenminister Bernard Cazeneuve hat inzwischen eine Aufstockung der Sicherheitskräfte zugesagt. Auch die Zahl der Dolmetscher in den örtlichen Kommissariaten wurde erhöht.
"Keine Brüderlichkeit, ohne Sicherheit“
Dass sich aber die asiatischen Migranten derartig bedroht sehen und dabei fast ausschließlich von Jugendlichen und Halbwüchsigen aus maghrebinischen und afrikanischen Familien (ihre Nachbarn) angegriffen werden, öffnet die Tore für eine besonders gefährliche Art kollektiver Spannungen. Der „Front National“ liegt bereits auf der Lauer. Die nationalpopulistische Partei umwirbt die asiatischen Migranten und bescheinigt ihnen eine „erfolgreiche Integration“ – will heißen: im Gegensatz zu anderen Einwandergruppen. Die asiatischen Demonstranten vom Sonntag hatten einen Slogan, der die Devise der französischen Republik (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) leicht abwandelte: „Keine Brüderlichkeit, ohne Sicherheit!“. Das kann auch als eine Art letzter Warnung aufgefasst werden. Einige – bisher wenige – asiatische Einwanderer haben Komitees zur Selbstverteidigung gebildet.
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