"Die Sowjet-Mentalität muss aus unseren Köpfen"

"Die Sowjet-Mentalität muss aus unseren Köpfen"
Der moldawische Gewerkschafter Ion Cucu und die Menschenrechtsexpertin Valentina Bodrug-Lungu über die niedrigen Löhne in ihrem Land, über Migration und ihre Wünsche an Österreich.

Moldawien gilt als der ärmste Staat Europas. Im Land der „fruchtbaren schwarzen Erde" liegt der Großteil der Landwirtschaft brach, die alte Sowjet-Industrie ist zerfallen. Ein Viertel der Bevölkerung – vor allem Männer und junge Menschen – leben und arbeiten in Russland oder in der EU. Von ihren Überweisungen in die Heimat leben die Zurückgebliebenen. Der moldawische Gewerkschafter Ion Cucu und die Menschenrechtsexpertin Valentina Bodrug-Lungu besuchten auf Einladung der Entwicklungspolitik-Organisation Südwind vergangene Woche Österreich. Mit dem KURIER sprachen die beiden über die niedrigen Löhne in ihrem Land, über Migration und ihre Wünsche an Österreich.

KURIER: Viele Österreicher haben kein gutes Bild von Moldawien. Sie verbinden damit vor allem Migranten und Illegale. Warum verlassen so viele Menschen ihr Land?

Ion Cucu: Wir haben offiziell zwar nur eine Arbeitslosenrate von sechs Prozent. Aber die Mindestlöhne sind extrem niedrig. Für Lehrer etwa beträgt der Mindestlohn nur 50 Euro im Monat, für Ärzte 65 Euro. Besser verdienen Arbeiter in der Industrie mit etwa 100 Euro. Das Existenzminimum aber wird vom Staat mit 110 Euro festgelegt. Die Gewerkschaft verhandelt nun eine Anhebung der Mindestlöhne auf das Existenzminimum.
Valentina Bodrug-Lungu:
Die niedrigen Einkommen sind das Hauptproblem. Daher die hohe Migration. Offiziell sind 300.000 Moldawen im Ausland, tatsächlich aber dürften es eine Million sein. Vor allem die Männer gehen weg, viele auch nach Russland.

Warum verdienen Lehrer und Ärzte so wenig?

Cucu: Weil der Staat kein Geld hat. Moldawien befindet sich eigentlich immer noch in der Umbruchphase von der Sowjetzeit in eine Marktwirtschaft. Die alten kommunistischen Industrien wurden aufgelöst, die Maschinen gingen zurück nach Russland. Die Wirtschaft wurde in viele kleine Teile zerrissen, Privatunternehmen gibt es nur wenige.

Sie kritisieren auch die Arbeitsbedingungen in ihrem Land und setzen sich für menschenwürdige Arbeit ein. Woran außer den Löhnen krankt es noch?

Cucu: Wir haben eine gesetzliche Sozialversicherung und eine Arbeitszeit von höchstens acht Stunden am Tag. Die Arbeitsinspektoren können das aber nicht lückenlos überprüfen.
Bodrug-Lungu:
Das Problem ist einfach, dass sich viele Unternehmen nicht an diese Gesetze halten – vor allem die privaten Firmen nicht. Es gibt in den Privatunternehmen fast nirgendwo einen Betriebsrat. Insgesamt sind etwa nur ein Drittel aller Beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder. Bei ausländischen Unternehmen in Moldawien – etwa bei der österreichischen Textilfirmen Tricon im Süden unseres Landes – ist die Situation viel besser. Dort gibt es Betriebsräte, die Löhne sind höher und es werden sogar Überstunden bezahlt.

Wünschen Sie sich mehr Investitionen aus dem Ausland?

Cucu: Ja, das bräuchten wir. Vor allem in der Landwirtschaft. Moldawien hat fruchtbare schwarze Erde, aber viel Agrarland liegt brach. Nach der Unabhängigkeit Moldawiens von der UdSSR 1991 wurde Land an die Bevölkerung verteilt. die Landwirtschaft ist dadurch zergliedert. Und die Menschen hatten kein Geld, um Maschinen zu kaufen. Die alten sowjetischen Maschinen sind kaputt.
Bodrug-Lungu:
Investitionen sind wichtig, aber wir brauchen auch Unterstützung, unsere Mentalität zu ändern. Wir müssen die Sowjet-Mentalität aus unseren Köpfen bringen. In Moldawien unterrichte ich Studenten an der Universität. Viele glauben noch immer, dass der Staat nur gibt. Ich sage ihnen dann, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen müssen und nicht warten dürfen, bis der Staat alles am Teller serviert.

Welche Anregungen nehmen sie aus Österreich mit nach Hause?

Cucu: Die gute Organisation des Gesundheitswesens, zum Beispiel. Beeindruckt hat mich auch der Betriebsbesuch in der voestalpine: die guten Arbeitsbedingungen und die Freude, mit der die Menschen arbeiten.
Bodrug-Lungu: Ich beneide Österreich um die politische Stabilität und die Demokratie. Auch davon hängt der Wohlstand ab.

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