Bildungsdebatte: "PISA wird überbewertet"

Bildungsdebatte: "PISA wird überbewertet"
Was soll Schule leisten? Das Vermitteln von Lesen und Rechnen ist zu wenig, meint der Bildungsforscher Heiner Barz.

Die PISA-Studie hat viele Österreicher aufgerüttelt: Im internationalen Vergleich sind die Schüler höchstens Mittelmaß, so der Befund. Die Politiker sind alarmiert und versuchen hektisch, den Unterricht zu reformieren. Doch wie sehen die neuen Bildungsziele aus? Dieser Aspekt ist bei allem Reform­eifer aus dem Blickfeld geraten. Er wird beim heurigen Forum Alpbach besonders beleuchtet – die "Zukunft der Jugend" ist dort ein Kernthema. Im Vorfeld hat die Julius-Raab-Stiftung österreichische Jugendliche befragt, wie sie die Zukunft der Bildung sehen. Einig sind sich dabei alle, dass das Lernen eine größere Rolle spielen wird, als es das heute tut. Bleibt die Frage: "Welche Bildung braucht die Jugend?" Darüber sprach der KURIER mit dem Bildungsforscher Heiner Barz . Er referiert in Alpbach.

KURIER: In Österreich wird viel über Schulreformen diskutiert. Gesamtschule ja oder nein, Zentralmatura sind die Schlagworte. Sie gehen die Frage nach Reformen grundsätzlicher an. Welche Bildung brauchen Kinder, und was soll Schule dabei leisten?

Heiner Barz: Die Schule soll Kindern den Raum geben zu wachsen, damit sie zu einer Persönlichkeit heranreifen. Im besten Fall unterstützen Lehrer junge Menschen dabei, Selbstbewusstsein und "Selbstwirksamkeit" zu entwickelt – also ihre Fähigkeit und das Selbstvertrauen, Dinge gestalten und verändern zu können. Das muss das wesentliche Ziel der Schule sein. Lerninhalte – Lesen, Rechnen, Biologie, usw. – gehören natürlich auch in den Unterricht. Sie sind aber nicht alleine ausschlaggebend. Es wäre viel gewonnen, wenn wir das Kind als Ganzes wieder in den Vordergrund rücken könnten.

Das klingt schön und gut. Aber wie muss ein Unterricht aussehen, der nicht nur Wissen vermittelt, sondern Kinder in ihrer persönlichen Entwicklung weiterbringt?

Musik, Sport, Theaterspielen, Malen – all die musischen Bereiche müssen wieder mehr in den Unterricht. Die Reformpädagogen haben das gewusst. Sie haben sich nicht am Lehrplan, sondern am Interesse, am Alter und der Lebenswelt der Kinder orientiert. In den 1990er- Jahren hielten diese Reformen über die Lehrerfort­bildung Einzug ins Regelschulwesen: Jahrgangsübergreifende Klassen, offener Unterricht, Ganztagsschulen wurden eingeführt. Dann kam der PISA-Schock und der hat all das wieder zurückgedreht.

Welche Folgen hatte PISA für den Schulalltag?

Plötzlich hieß es: Die Schule muss Kompetenzen entwickeln und durch flächendeckende Tests unter Beweis stellen. Man hoffte das mit vereinheitlichenden Bildungsstandards oder mit der Zentralmatura zu erreichen. Wenn sich der Unterricht daran orientiert, hilft er immer höhere Kompetenz-Niveaus zu erreichen, so die Hoffnung.

Ist sie so unbegründet?

Ja. Die Testmanie wird das Gegenteil von dem bewirken, was sie eigentlich bezwecken sollte. Sie fördert die Lernbulimie: Schüler stopfen schnell Wissen in sich hinein, spucken es bei Tests wieder aus und vergessen es schnell wieder. Das ist etwas, was ich an den Unis auch immer mehr feststelle. Die Muße wurde vertrieben. An den Schulen haben Arbeitsgemeinschaften kaum noch eine Existenzberechtigung, weil Lehrer und Eltern sagen: Das Kind hat dafür keine Zeit mehr.

Das klingt, als ob Sie eine gewisse Skepsis gegenüber diesen vielen Tests haben.

Ja, denn die PISA-Studien wurden überbewertet. Inzwischen ist bekannt, dass sie nur einen kleinen Ausschnitt der Lesefähigkeit zeigen – nämlich, ob ein Schüler aus einem kurzen Text eine Information ziehen kann. PISA sagt aber nichts darüber, ob ein Schüler Thomas Manns "Zauberberg" in seiner Vielschichtigkeit entschlüsseln und verstehen kann. Das ist doch ein sehr verengtes Verständnis.

Wo sehen Sie die Gefahren dieser Entwicklung ?

Viele Schüler verlieren auf Jahre hinweg die intrinsische Motivation fürs Lernen – also die aus ihnen selbst kommende Begierde, Neues zu entdecken und zu verstehen. Was machen denn die Maturanten? Sie nehmen den Billigjet ans Mittelmeer, um sich eine Woche mit Alkohol zu benebeln. Das kommt nicht von ungefähr. Junge Menschen können oft nichts mit dem verbinden, was sie die letzten Jahre gelernt haben.

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