Zirngast über türkische AKP: "Es geht zu Ende"

Zirngast über türkische AKP: "Es geht zu Ende"
Präsident Erdogan habe den Zenit seiner Macht überschritten, so der jüngst in Ankara freigelassenen Max Zirngast.

"Das Modell der AKP ist am Ende, aber noch nicht vorbei." Aus der Sicht des jüngst in Ankara freigelassenen steirischen Journalisten und Aktivisten Max Zirngast hat der autoritär agierende türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mit seiner religiös-islamischen Partei AKP den Zenit seiner Macht überschritten. Auch die Zustimmung der Wähler zur AKP sinke, sagte Zirngast am Sonntag in Wien zur APA.

"Es geht zu Ende, doch wir wissen nicht wann." Zirngast fügte hinzu: "Die Alternativen könnten schlechter sein." Am Rande einer Veranstaltung wies er gegenüber der APA darauf hin, dass das türkische Innenministerium von Hardlinern dominiert sei, die wiederum mit dem Polizeiapparat gut vernetzt seien. In Zukunft müsse nicht unbedingt ein starker Führer an die Macht kommen. "Die Kader sind sowieso Opportunisten." Dies gelte auch für die politische Rechte.

Im Parlament seien viele Abgeordnete abgestraft worden, denen Nähe zur Bewegung des heutigen Erdogan-Erzfeindes Fethullah Gülen nachgesagt wurde. Andererseits hätten, so Zirngast, frühere dem Gülen-Lager zugerechnete Parlamentarier ihre Haltung geändert und fänden sich jetzt auf Seiten der stärksten Verfechter des Erdogan-Regimes wieder. Infolge der Absetzungs- und Inhaftierungswellen im Staatsapparat müssten viele Posten neu besetzt werden.

Einen Prestige- und Einflussverlust habe der Präsident sehr wohl erlitten, betonte Zirngast, von der APA angesprochen auf die AKP-Verluste in den großen Städten, die derzeitige Wirtschaftskrise und die Abwendung ehemaliger AKP-Spitzenpolitiker. Der Journalist, der für linksgerichtete Medien publizistisch tätig war und in Ankara Politologie studierte, verwies zudem auf den Mitgliederschwund beim Kernpotenzial der AKP-Wähler. Das Argument Erdogans, dies sei auf Todesfälle zurückzuführen, gehe sich numerisch nicht aus.

Erdogan ist ein autoritärer Politiker

Zur aktuellen Lage in der Türkei hatte der 30-jährige Österreicher zuvor bei einer Veranstaltung des Vienna Humanities Festival ausgeführt, im Ausland gehe man davon aus, alle Aktionen seien auf Erdogan persönlich zurückzuführen. Der Staatschef brauche aber auch "interne Bündnispartner", wie es früher die Gülenisten waren. Nach 2013, als Gülen in Ungnade fiel, musste Erdogan neue Allianzen knüpfen. Dazu zählten auch Militärs, die früher wegen Gülen-Nähe inhaftiert gewesen waren. In den Augen Zirngasts "ist Erdogan ein autoritärer Politiker, doch eigentlich kein Islamist". Seine heutigen politischen Partner schätzt der Türkei-Kenner "eher faschistisch als islamistisch" ein. Bisher habe es Erdogan immer geschafft, Allianzen zu kontrollieren.

Zur Lage der Opposition meinte Zirngast, man habe es mit "sehr fragilen Allianzen" zu tun. Aktuell seien "restaurative Kräfte" am Werk. Nach den Massenentlassungen durch die AKP-Regierung unter Erdogan müssten sehr viele Posten neu besetzt werden. In Realität bedeutet dies etwa, dass ganz junge Jus-Studienabsolventen ohne Erfahrung als Richter eingesetzt würden. Diese agierten in Urteilssprüchen eher regime-konform. "Die türkische Justiz liegt am Boden."

Prozesse wie sein eigener, wo in der Anklageschrift keine einzige Straftat angeführt war und der mit einem Freispruch endete, sind aus der Sicht Zirngasts sehr häufig. "Anklagen werden erstellt im Wissen, dass dieser Fall mit Freispruch enden wird." Eine solche "Verschwendung staatlicher Mittel" diene oft nur dem Zweck, "Kritiker zu drangsalieren".

Die EU-Beitrittsverhandlungen spielen für die türkische Öffentlichkeit kaum mehr eine Rolle, stellte Zirngast in dem Gespräch mit dem früheren ORF-Korrespondenten Raimund Löw fest. Die Zustimmung zur Europäischen Union sei ohnehin gering. Und: "Eine Demokratisierung würde nicht automatisch mit einem EU-Beitritt erfolgen." Ein solcher Prozess müsste von innen kommen. Zirngast hob die Komplexität der türkischen Gesellschaft und die geopolitische Lage des Landes hervor.

Eingangs schilderte Zirngast, wie er seine Haft in Ankara erlebte. Ein Antrieb, sich intensiv mit der Türkei zu befassen, waren die Gezi-Proteste von 2013. Im September 2018 wurde er unter dem Vorwurf der Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung festgenommen. Am 24. Dezember aus der Haft entlassen, wurde er mit Ausreiseverbot belegt. Am 11. September kam nun der überraschende Freispruch.

Wie es mit ihm persönlich weitergehen werde? In nächster Zeit plant Zirngast Lesereisen zur Präsentation des neuen Buchs "Die Türkei am Scheideweg" in Österreich und Deutschland. Das Buch der "edition assemblage" wird am 4. Oktober im Depot in Wien (Breite Gasse 3, 19:00 Uhr) vorgestellt. Eine Zeitlang will Zirngast in Österreich bleiben. Bei "opportuner politischer Lage" kann er sich vorstellen, wieder in die Türkei zu reisen.

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