Woran eine einheitliche EU-Flüchtlingspolitik scheitert
Es war einmal eine EU-Flüchtlingskrise. Doch der Ansturm ist Vergangenheit. Während Ende 2015 mehrere Tausend Menschen pro Tag ohne Visum in der Europäischen Union ankamen, sind es derzeit weniger als 300, die auf illegalen Wegen über das Mittelmeer die EU erreichen.
Die Zahlen der Ankommenden sind deutlich kleiner, doch warum schafft es die Union nicht, mit der Situation umzugehen?
Seit dem Flüchtlingsgipfel im Juni, bei dem eilig eine Absichtserklärung in Sachen Migration verfasst wurde, ist kaum Konkretes passiert. Wenige der Forderungen der EU-Staaten wurden umgesetzt.
Migrationsexperte Gerald Knaus, Mitarchitekt des EU/Türkei-Deals, warnt Europa vor weiterem Zögern in der Umsetzung der Gipfelerklärung. "Wenn man in Brüssel fragt, wie es jetzt weitergehen soll, bekommt man keine Antwort", so Knaus.
Gerald Knaus warnt vor weiterem Zögern
Auf der Gipfelerklärung der EU im Juni wurden so genannte Anlandeplattformen für Flüchtlinge außerhalb der EU angedacht. "Diese Idee ist quasi tot", kommentiert Knaus gegenüber dem KURIER. Die - bereits jahrelang existierende - Idee scheitert vor allem daran, dass kein Staat in Nordafrika bereit ist, auf seinem Territorium ein solches Lager erreichten lassen will.
Außerdem war am Gipfel von kontrollierten Zentren für Migranten auf europäischem Boden die Rede, wo Migranten auf ihre Asylbescheide warten sollten. "Wir haben jetzt so genannte Hotspots in Italien oder Zentren in Spanien", sagt der Migrationsexperte, doch die funktionieren nicht, wie sie sollten. "Was aber wirklich peinlich für Europa ist, sind die Zentren in Griechenland. Dort herrschen unmenschliche Zustände, die Verfahren sind sogar verglichen mit anderen EU-Ländern extrem langsam."
Was läuft falsch? Woran scheitert eine vernünftige europäische Migrationspolitik?
- es gibt kein gemeinsames Asylsystem
- die Dublin-Regelung funktioniert nicht
- die Verteilung der anerkannten Flüchtlinge funktioniert nicht
- Verzögerungen beim Außengrenzschutz
Gemeinsames Asylsystem
Als beim Juni-Gipfel in Brüssel noch einige wagten, ein gemeinsames EU-Asylsystem anzuvisieren, haben die meisten bereits geahnt, dass das eine unmögliche Mission werden könnte.
Vor allem in den Asylentscheidungen unterscheiden sich die Mitgliedstaaten zum Teil massiv. Die Chance, Asyl zu bekommen war 2016 etwa für einen Afghanen um ein Vielfaches höher, wenn er in Italien statt in Bulgarien den Antrag stellte. Und auch die Zeit, die ein Asylwerber auf seinen Bescheid warten musste, unterscheidet sich zum Teil um Jahre.
Doch nicht nur die Aufnahmebedingungen, auch die Rechtsansprüche und die Ansprüche auf soziale Leistungen sind je nach EU-Staat unterschiedlich. Etwa, was die Berufung gegen einen negativen Asylbescheid betrifft, oder den Zugang zu Grundversorgung etc.
Die EU ist meilenweit von einem gemeinsamen Asylsystem entfernt. Die Berichterstatterin über eine mögliche Reform des Dublin-Systems, die schwedische EU-Parlamentariarin Cecilia Wikström, legte Ratspräsident Donald Tusk zu Herzen, die Entscheidung über ein europäisches Asylsystem mit Mehrheitsentscheidung anzunehmen - denn die ist dafür nötig. Tusk allerdings bestand beharrlich auf die Einstimmigkeit.
Die EU-Kommission drängt immer wieder auf Fortschritte: Erst vergangene Woche plädierte Innenkommissar Dimitris Avramopoulos erneut auf konkrete Entscheidungen. Zweieinhalb Jahre sind vergangen, seit die EU-Kommission im Mai 2016 ein Asylpaket mit sieben Gesetzesvorhaben präsentiert hatte. Zwei davon - die Reform der Asylverfahrensordnung und die Verteilung der Flüchtlinge - werden noch einige Zeit brauchen. Die anderen fünf, glaubt Avramopoulos, könne man in den nächsten Wochen auf den Weg bringen.
Dublin-Reform
Die Dublin-Regelung sieht vor, dass ein Schutzsuchender in der Europäischen Union dort seinen Asylantrag stellen muss, wo er die EU betritt. Also in den meisten Fällen Griechenland, Spanien, Italien. Diese Regel stammt aus Zeiten, in denen nicht viele Menschen um Schutz in Europa angesucht hatten. Doch dann kam 2015 und die Zahl der Flüchtlinge stieg massiv - und die Fehler des Dublin-Systems wurden schmerzlich sichtbar. Griechenland, Italien, Spanien und Malta konnten der Zahl an Anträgen nicht Herr werden.
Damals hat die Europäische Kommission im Rahmen ihres Asylpakets auch eine Reform der Dublin-Regelung vorgeschlagen. Insbesondere soll dadurch garantiert werden, dass die Randstaaten in Zukunft nicht mehr allein die Last tragen müssen. Doch EU-Parlament, Kommission und Mitgliedstaaten schafften es in den vergangenen drei Jahren nicht, sich darauf zu einigen. Jeder Versuch, die Menschen gleichmäßiger auf die EU-Mitglieder zu verteilen, scheiterte bislang.
Verteilung
Das ist der nächste Fehler. Die faire Verteilung von Asylsuchenden in der EU funktioniert nicht. Die Fronten sind verhärtet. Ungarn, Polen, die Slowakei und Tschechien sind strikt gegen verpflichtende Quoten zur Aufnahme von Flüchtlingen. Auch Italien stemmt sich dagegen. Auch die österreichische Regierung stellt die Verteilung infrage. Das immer wiederkehrende Argument: Wir lassen uns von der EU nicht verpflichten.
Fazit: Über eine Verteilung wird - zumindest öffentlich - nicht mehr verhandelt.
Rückführungen
Momentan gibt es noch zu wenige Abkommen mit Herkunftsländern. „Wir brauchen dringend realistische Rücknahme-Abkommen mit den Herkunftsländern“, etwa in Westafrika, sagt Gerald Knaus zum KURIER. Die sollten allerdings realistisch und umsetzbar sein. Gleichzeitig müsse man den Ländern attraktive Angebote zur legalen Migration machen.
Außengrenzschutz
Während der Rat also die Verteilung ausblendet, bleibt das einzige, auf das sich die EU-Regierungen - getrieben von innenpolitischem Druck - auf ihren Treffen zu einigen scheinen, der Schutz der europäischen Außengrenzen. Der Gipfel im Juni beschloss daher unter besonderem Druck von Bundeskanzler Sebastian Kurz eine Aufstockung der Frontex-Beamten von bisher 1600 auf 10.000 bis 2020. Nun auch noch der Rückschlag in Sachen Frontex - die Aufstockung des Frontex-Personals auf 10.000 Mann dürfte sich um Jahre verzögern.
Auch der Außengrenzschutz scheiterte an einem alles schlagenden Argument aus Italien, Spanien, Griechenland und Ungarn: der Angst, Frontex würde langfristig das Kommando über die eigenen Grenzen übernehmen.
Symbolpolitik
Das Fazit: Statt konkreten Ideen und Mehrheitsentscheidungen schaffte die Europäische Union in den vergangenen Jahren in Sachen Migrationspolitik vor allem symbolische Maßnahmen. Doch es gibt kaum eine Strategie, auf europäischer Ebene möglichst schnell zwischen jenen zu unterscheiden, die Schutz brauchen, und jenen, die keinen Schutz brauchen.
Und das Thema wird die Union weiter beschäftigen. Vor allem in den Monaten vor den EU-Wahlen im kommenden Jahr. Insbesondere für Rechtspopulisten ist das ein gefundenes Fressen. Eine EU, die der ankommenden Migranten - egal, wie wenige das mittlerweile sind - nicht Herr wird, gehört offenbar verändert.
Eine schnelle Einigung wäre wünschenswert, heißt es in Brüssel. Der Kommissionspräsident wird nach den Wahlen wechseln, und die Mehrheitsverhältnisse werden sich ändern. Es wird dann neue Kommissare geben, die zum Teil von rechtspopulistischen Regierungen gestellt werden.
"Während wir eine ideologische Debatte über den Migrationspakt führen, der keine klaren Vorschreibungen macht, haben wir vergessen, darüber zu sprechen, was tatsächlich gemacht werden soll", sagt Migrationsexperte Knaus."Wovon sprechen wir eigentlich? Die Migration nach Europa, wie sie momentan stattfindet, ist ein beherrschbares Problem.“
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