Wieso Italien? Warum das Land so schwer vom Coronavirus getroffen wurde
Seit in Italien die Zahl der Todesopfer jene in China überstiegen hat, stehen viele Fragezeichen im Raum. Warum gerade Italien? Und warum ist Sterblichkeit dort so hoch?
Eine Erklärung dafür liefert die Universität Oxford, die jetzt einen neuen Bericht dazu veröffentlicht hat. Als Hauptgrund wird da die Überalterung des Landes genannt – Italien hat mit einem Durchschnittsalter von 46,3 Jahren die zweitälteste Bevölkerung weltweit. In China ist die Lage ganz anders: Gerade mal zwölf Prozent der Bevölkerung ist über 65, in Italien ist es knapp ein Viertel der Bevölkerung. Doch das allein erklärt die Lage nicht.
Junge wohnen bei ihren Großeltern
Neben dem Alter ist es vor allem die Lebenssituation der älteren Generation, sagen die Wissenschaftler: Viele Junge leben bei ihren Großeltern, schreiben die Autoren; aus finanziellen Gründen ebenso wie aus sozialen – in Italien lebt man gern mit der Familie zusammen.
Das hat die Lage im Norden wohl zusätzlich verschärft. Die Jungen pendeln dort oft in die größeren Ballungsräume zur Arbeit, wie eben nach Mailand oder Bergamo. Dort haben sie möglicherweise Kontakt mit jungen Infizierten, die selbst keine Symptome haben – und tragen das Virus heim zu ihren Eltern und Großeltern.
Ein fataler Kreislauf, der wohl mehr als die Hälfte der Bevölkerung in den nördlichen Regionen betreffen kann, heißt es in der Studie. „Die Interaktionen zwischen den Generationen, das Zusammenwohnen und das Pendeln dürften den Ausbruch in Italien beschleunigt haben“, schreiben die Wissenschaftler.
Extrem hohe Dunkelziffer
Dazu kommt, dass die Dunkelziffer an Infizierten – gerade unter den Jungen – wohl viel größer sein muss als die tatsächlichen Zahlen. Das belegt auch ein Blick auf die Sterberate: Die ist in Italien mit 8,3 Prozent wesentlich höher als anderswo (in China etwa liegt sie bei vier Prozent). Das spricht für Experten für eine sehr große Zahl an unwissentlich Infizierten.
Die tatsächlichen Opfer sind zudem meist sehr alt – und krank. Das durchschnittliche Alter der Verstorbenen liegt bei 79,5 Jahren; nur fünf Personen waren unter 40 Jahre - und alle waren krank.
Luftverschmutzung extrem stark
Dies liefert eine zweite Begründung für die Lage in Italien: Im Norden des Landes ist die Luft so schlecht wie in kaum einer anderen Region Europas; 24 der 100 Städte mit der stärksten Luftverschmutzung in Europa liegen in Italien.
Das bringt viele Krankheiten mit sich. „Die Sterblichkeit steigt, weil die Menschen hier aufgrund der Luftverschmutzung schon viele Vorerkrankungen haben“, sagt Lorenzo Casani, der Leiter eines Klinik für ältere Menschen in der Lombardei, gegenüber dem Time Magazine. Vor allem die Lunge sei betroffen, sagt er; gerade bei Älteren sei das höchst problematisch.
Auch in China ist das der Fall - die Luftverschmutzung war in der Region Wuhan vor dem Ausbruch ebenso extrem. Mittlerweile wird allerdings sogar angenommen, dass der Lockdown dort einen zusätzlichen, positiven Effekt haben könnte: Forscher mutmaßen, dass die Verbesserung der Luft - das Stickstoffdioxid-Level ist fast auf null gefallen - vielen Menschen auf lange Sicht gesundheitlich geholfen haben, also Leben gerettet hätten.
Keine Vorbereitung
Dazu kommt die Frage, ob Italien auf einen solchen Ausbruch vorbereitet war – und ob es schnell genug reagiert hat. Immerhin war Italien das erste Land, das Flüge aus China untersagt hat. Das sehen Experten im Nachhinein kritisch: Dadurch wären Reisende aus China über andere Länder eingeflogen – ohne getestet zu werden.
Das wiegt besonders schwer, da unzählige Chinesen in Norditalien vor allem in der Textilindustrie arbeiten - und freilich auch hin und herfliegen. 321.000 Chinesen sind es offiziell, die in Italien leben, vermutlich aber noch viel mehr, die illegal dort leben.
Zudem hat man wohl lange nicht gewusst, wie mit möglichen Patienten umzugehen ist: Der erste Virusträger, der ermittelt wurde, wurde lang nicht als solcher erkannt. „Wir wissen, dass Patient 1 zumindest drei oder viermal aus der Notaufnahmen gegangen ist, er hat so unzählige andere Patienten und Personal angesteckt“, sagt Casani.
Geringe Gesundheitsausgaben
Heute ist man schlauer – nur, das Gesundheitssystem selbst hält nicht mehr stand. Das dürfte ein weiterer Grund für die desaströse Situation in Italien sein. Lediglich 6,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden für den Gesundheitssektor aufgewendet. Im Vergleich: In Österreich waren es zuletzt 10,4 Prozent, der EU-Schnitt liegt bei 9,8 Prozent.
„Die ständigen Einschnitte bei Versorgung und Forschung sind jetzt zum Problem geworden“, so der Mediziner Casani gegenüber Time. Viele Wissenschaftler sind wegen der Kürzungen ins Ausland. „Wir waren nicht vorbereitet. Wir haben nicht genügend Ärzte. Wir haben keinen organisierten Plan für Pandemien.“
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