Wieso der Frieden in Nordirland immer noch zerbrechlich ist
26 Jahre nach dem Karfreitagsabkommen ist die dunkle Vergangenheit Belfasts zum Touristen-Highlight geworden. Doch ganz abgebaut sind die Ängste aus 30 Jahren Nordirlandkonflikt nicht.
Jim White war 14 Jahre, als er seinen besten Freund verlor. Nicht, weil dieser wegzog oder weil sie sich gestritten hatten. Sondern weil da auf einmal eine acht Meter hohe Mauer war. Die den protestantischen Norden, vom katholischen Westen Belfasts trennte. Und damit Jim White von seinem besten Freund.
Heute, mit 69 Jahren, kann Jim White die einst berüchtigte katholische Springfield Road im Westen Belfasts wieder besuchen. Nicht, wenn er nicht muss. Aber er es geht. „Es hat sich viel verändert“, sagt der 69-Jährige, als der KURIER ihn beim Spaziergang entlang der Mauer trifft. „Die Troubles sind vorbei.“
Und doch, dass das Tor der Friedensmauer in der North Howard Street über Nacht geschlossen wird, findet er gut.
„Sonst kommt irgendwer noch auf dumme Ideen.“ Denn auch wenn der 30-jährige Konflikt mit dem Karfreitagsabkommen 1998 beigelegt wurde – ganz wird der Ruhe nicht gertraut. Und so braucht es derzeit vielleicht noch ein paar Maßnahmen, ein paar Krücken.
Die Wut der Ungehörten
500 Meter und eine Mauer entfernt von Jim White sitzt Michael Culbert an einem Holzschreibtisch und arbeitet an einer anderen Form der Aufarbeitung. Mit seinem Verein Coiste bietet er politische Touren entlang der Friedensmauer an. Rund 16.000 Menschen hat er auf diesem Weg zu zentralen Punkten in Belfast und in der Geschichte des Paramilitärs gebracht. „Wir sind nicht objektiv“, gibt Culbert zu. Darum gehe es ihm nicht, sondern um ein Sichtbarmachen, ein Einsetzen für politisch Verurteilte.
Verurteilte, wie er selbst einer ist. Culbert war 23 Jahre alt, als er der IRA, der Irish Republican Army, beitrat – mobilisiert durch die Ereignisse des „blutigen Sonntags“.
Denn am 30. Jänner 1972 erschoss die britische Armee bei einer Demonstration in der nordirischen Stadt Derry/Londonderry 13 irische Nationalisten. An dem Tag wurde Culbert klar: Die Reform, die er wie so viele verlangte, würde nicht kommen. Kein Ende der religionsbedingten Diskriminierung, wie er schildert. Keine Änderung des Wahlrechts, die damals nur den (vordergründig protestantischen) Hausbesitzern das Abstimmen erlaubte.
„Wenn einem die Reform nicht gegeben wird“, sagt Culbert mit klarer Stimme und für einen Moment werden seine sanften Augen hart, „muss man zu den Waffen greifen.“ Er ergänzt: „Ich war Sozialarbeiter, verheiratet, hatte zwei Kinder. Meine Frau war Lehrerin. Wenn jemand, wie ich beitritt (der IRA, Anm.), sagt das nicht alles?“
Die Narben des Konflikts
Der „bloody sunday„ war im Nordirlandkonflikt der Funken im Pulverfass. Während in den drei Jahren zuvor 200 Menschen bei Anschlägen und Unruhen auf beiden Seiten zu Tode kamen, waren es in den zwölf Monaten danach 479. Um das neutrale Stadtzentrum zu schützen, wurde ein Ring aus Stahl gezogen.
„Hier“, sagt Tourguide James Ellison und deutet auf runde Löcher an der Hausmauer zwischen Bank und Grußkartengeschäft. „Da war der Zaun am Haus verankert.“ Wie ein Seestern, Arme und Beine weit auseinander, musste man sich gegen sie Mauer lehnen, erinnert sich Ellison. Wurde abgetastet, bevor man ins Zentrum durfte. War das gruselig? Ellison zuckt mit den Schultern. „Man gewöhnt sich an alles.“ Und eigentlich war es durch die Kontrolle ja sicherer.
Weiter geht’s. In zweieinhalb Stunden führt Ellison bei der „Dead Centre Tour“ Touristen zu den Konflikt-Hotspots des Belfaster Stadtzentrums. Er führt dabei etwa zur 7 Castle Lane, an der sich einst das Abercorn Restaurant befand. In dem sich am 4. März 1972 zwei Mädchen einen Kaffee bestellten und ihn nie trinken würden. Sie verließen das Lokal, ließen aber einen Rucksack zurück. 130 Menschen wurden bei der Explosion verletzt, zwei getötet. Heute befindet sich hier der Fanshop eines englischen Fußballklubs.
Der Erfolg des Tourismus
Er bringt die Gruppe zur 35 Hill Street, in der Terri Hooley mit seiner Harp Bar nicht nur Leben ins verwaiste Stadtzentrum brachte, sondern eine Ort schuf, an dem junge Protestanten neben Katholiken gemeinsam feiern konnten.
Während die Besucher aus Amerika, Spanien oder Italien Ellisons Anekdoten lauschen, hetzen Einkäufer an der Gruppe vorbei, hallt das Lachen von Schulgruppen durch die Gassen. Denn trotz, oder ein wenig vielleicht auch wegen, des dunklen Erbes hat sich seit 1998 der Tourismus in Belfast zu einem Wirtschaftszweig mit mehr als einer Milliarde Euro entwickelt. Aber: „Der Friede ist zerbrechlich“, sagt James Ellison am Ende der Tour.
Wie schnell die Wut wieder hochkommt, hat sich im April 2021 gezeigt, als Benzinbomben gezündet, Polizisten attackiert und ein Bus in Brand gesteckt wurde. Eine Reaktion auf den Brexit. Denn während die katholischen Republikaner durch den EU-Austritt Englands eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland fürchten (obwohl dies zu verhindern im Karfreitagsabkommen festgehalten wurde), sorgen sich die protestantischen Unionisten, durch Grenzkontrollen im Meer von Großbritannien getrennt zu werden.
Die Öffnung der Jungen
Die nächste Generation blickt dennoch nach vorne. Die 32-jährige Gemma Gabbie, die mit ihrer Tochter im Stadtzentrum unterwegs ist, interessiert sich – wie so viele junge Belfaster – nicht für Politik. „Das Karfreitagsabkommen hat seinen Zweck erfüllt.“
Eine Gruppe junger Menschen kämpft sogar für eine längere Öffnung der Friedenstore – zunächst für ein paar Stunden, irgendwann für immer. „Ich weiß“, sagte die 18-jährige Katie-Louise von der protestantischen Shankill Road zur BBC, „dass viele Menschen das Gefühl hatten, dass die Tore notwendig waren, um sie zu schützen.“ Aber, ergänzt Nadia aus dem katholischen West-Belfast: „Ich glaube, dass die Tore und Mauern schon das Stigma erzeugen, dass wir die Menschen auf der anderen Seite nicht mögen sollen.“
Eine Friedensmauer sollte keine besten Freunde trennen.
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