Wie sich Moskau trotz Krise herausputzt
Lenin im gläsernen Sarg traut seinen Ohren nicht. War seine ewige Ruhe bis jetzt nur durch Marschlieder und Rattern der Panzerketten bei Paraden gestört, wird er jetzt den ganzen Tag von russischen Schnulzen berieselt. Die Musikbeschallung kommt vom Eislaufplatz, der auf dem Moskauer Roten Platz knapp bis zum Mausoleum vorverlegt wurde. Um einem Neujahrs-Jahrmarkt Platz zu machen.
Moskau ist derzeit mit "Christkindlmärkten" gut bestückt. Der schönste ist vielleicht der vor dem Rathaus – umgeben mit Skulpturen aus Eis. Angeboten wird ausschließlich Russisches: Wollsocken, Lack-Schatullen, handbemalter Christbaumschmuck, Holzspielzeug. Kein Punsch oder Wodka. Die Parkanlagen und Plätze versinken in Lichterketten, sehr oft in den nationalen Farben. Russischer Patriotismus wächst spürbar mit dem Druck aus dem Ausland.
Geschäfte werden gestürmt
Die Wirtschaftskraft Russlands hat sich in den vergangenen Jahren mehr als verdoppelt, die Löhne stiegen bis zum 13-Fachen. Den Menschen, besonders den Moskowiten, deren Einkommen doppelt so hoch wie das der restlichen Russen ist, ist es noch nie so gut gegangen – bis jetzt.
Die 12-Millionen-Metropole ist nicht Russland. Während in der Provinz noch die UdSSR spürbar ist, sind die Veränderungen in der Hauptstadt enorm. Zum Beispiel der Schnee am Straßenrand ist auch nach Stunden noch weiß. Weil: Gasheizungen statt Hausbrand. Die ökologische Lage am Land ist dafür meist eine Katastrophe.
Die Menschenmassen, die aus den Metroschächten quellen, sind nach westlichem Standard gekleidet. Statt mit Büchern wie früher jetzt mit Handys gewappnet. Es gibt praktisch keine Arbeitslosigkeit in Moskau, angesichts des Baubooms herrscht chronischer Facharbeitermangel.
Migranten für niedrige Arbeiten
Alle niedrigen Arbeiten erledigen die zentralasiatischen Migranten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken (die ersten wandern wegen der Rubelkrise allerdings schon ab). Gedankt wird den Kirgisen, Tadschiken, die Schnee schaufeln oder Regale schlichten, nicht. Die Moskauer sind fremdenfeindlich, sie fürchten die Islamisierung – obwohl in vier Tagen intensiver Stadterkundung keine einzige Frau mit Kopftuch aufgefallen wäre.
Auffallend dagegen ist das Wirken der neuen Stadtverwaltung. Seitdem der ehemalige Bürgermeister Juri Luschkow gegangen wurde (laut Gerüchten soll er in Österreich in einem Schloss logieren, Anm.), dürfte es weniger korrupte Beamte geben. Parken am Gehsteig und in zweiter Spur war früher obligatorisch. Jetzt wird jeder Falschparker, egal, welcher Klasse, sofort abgeschleppt. Der Fußgänger-Vorrang am Zebrastreifen gilt. In den Unterführungen sind nur noch fest gebaute Kioske erlaubt, die Zahl ist limitiert. Renoviert sind nicht nur die Fassaden an der Straßenseite, sondern auch in Hinterhöfen. Im Rathaus wurde ein Beschwerdetelefon eingerichtet, das angeblich auch zu Konsequenzen führt.
An die 5000 historische Bauten, Stadtpaläste, Kirchen und Klöster, die vor 20 Jahren nur noch Ruinen waren, wurden renoviert und unter Denkmalschutz gestellt. Aufgelassene Fabriken bekommen neue Nutzer, etwa Galeristen. Die Duma der Stadt steckt viele Milliarden Rubel in die Infrastruktur.
Moskau will auf Augenhöhe mit anderen modernen Metropolen sein. Die Polizisten lernen Englisch. Seit Sommer gibt es in Moskau eine Sensation: Radwege! Ende November wurde eine Kunsteisbahn auf dem Messegelände WDNCh (Stalin Expo genannt) eröffnet. Der größte Eislaufplatz der Welt sowie jener am Roten Platz, wurden von der Firma AST Eis- und Solartechnik aus Reutte gebaut.
Trotz aller Anstrengungen Moskaus, westliches Image aufzubessern, bleiben die Touristen aus Europa und Übersee aus. Und so bleiben Touristen aus Asien am Roten Platz unter sich. Der eine oder andere verirrt sich auch ins Lenin-Mausoleum Die Ehrenwache, die stets im Stechschritt zur Ablöse marschierte, gibt es nicht mehr. Der Übervater der KP-Revolution Wladimir Iljitsch ist scheinbar zu einer Fremden-Attraktion degradiert. Wer war überhaupt Lenin? Ein russischer Teenager mit Eislaufschuhen über der Schulter kann sich in der Schnelle nicht entscheiden: "Ein Komponist oder ein Schriftsteller?"
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