Wenn die Kinder in den Krieg ziehen

Auch diese Mutter hat ihren Sohn verloren: Bilel Kaabi (Bild) verließ seine Heimat Tunesien und schloss sich dem „Islamischen Staat“ an, der weite Teile des Iraks und Syriens kontrolliert. Irgendwo dort starb der junge Mann
Erschütternde Berichte über Burschen und Mädchen, die von heute auf morgen weg sind.

Ganz plötzlich hat meine Tochter kein Make-up mehr getragen." Das sei aber auch das Einzige gewesen, das ihr an der 16-Jährigen aufgefallen sei, erzählt ihre Mutter Bernadette*. Zwei Tage später war das Mädchen weg.

Einige Zeit danach kam eine SMS: "Ich bin in Syrien." Auf das verzweifelte "Warum?" der Eltern folgte nur ein Video: Eines, wo Muslime gefoltert und gequält werden. Seither endlos lange Monate ohne Anruf, eMail oder Lebenszeichen von der jungen Französin aus bürgerlichen Verhältnissen. "Mein Mann und ich haben nicht einmal gewusst, dass sie konvertiert ist."

Blass, aber um Fassung bemüht sitzt Bernadette am Podium neben anderen Müttern, die alle ihr Schicksal teilen: Ihre Kinder, mehrheitlich Söhne, sind Richtung Syrien gezogen. Um "gegen die Ungerechtigkeit gegen die Muslime zu kämpfen", wie einer der Jugendlichen vor seinem Weggehen sagte.

Wenn sie überhaupt was sagten. Denn fast alle Söhne und Töchter jener Mütter, die sich auf Einladung der Organisation Frauen ohne Grenzen diese Woche in Wien zusammenfanden, waren einfach gegangen. Keine Erklärungen, keine Rechtfertigungen.

Todesnachricht

Claire aus Kanada hatte die ersten Warnsignale wohl gesehen. Vor drei Jahren begann sich ihr Ältester radikal zu verändern. Er steigerte sich in abstruse 9/11-Verschwörungstheorien hinein. Er nervte die nicht-religiöse Familie mit endlosen Diskussionen, warum Muslime weltweit bedroht und ermordet würden. Ständiger Streit daheim. "Er wurde vollkommen verschlossen, man konnte nicht mehr mit ihm reden", schildert Claire. Eines Tages im November vor zwei Jahren war er dann weg. Keine Nachricht mehr – bis es für Claire heuer im Jänner schreckliche Gewissheit wurde: Ihr Sohn ist in Syrien umgekommen.

Auch Helenes Sohn hatte von einem Tag auf den anderen begonnen zu beten. Ohnmächtig verfolgte die Belgierin mit, wie radikale Kreise in der Moschee begannen, ihren 19-Jährigen zu indoktrinieren: Er müsse etwas gegen das Leiden der Muslime tun. Mehr als nur beten. "Immer wieder frage ich mich das", flüstert Helene: "Wie hätte ich es verhindern können? Wie hätte ich ihn aufhalten können? Ich weiß es nicht."

Hätte der Pass ihres Sohnes bei der Ausreise eingezogen werden sollen – so wie es seit Kurzem in den meisten europäischen Staaten praktiziert wird, um die jungen potenziellen Dschihadisten abzuhalten? Helene zuckt mit den Schultern. Es wäre auf alle Fälle einen Versuch wert gewesen, meint sie. Aber zu spät. Ihr Sohn ist im August 2013 verschwunden. Einige Tage danach rief er an. "Ich bin in Syrien. Aber mach dir keine Sorgen. Ich bin auf einem guten Weg, ich werde ein Märtyrer werden." Vier Monate später war der Junge tot.

Die in Schweden lebende Aischa hingegen kann noch hoffen. Sie weiß, dass ihre 19-jährige Tochter lebt, auch wenn sie seit sieben Monaten nichts mehr von der Studentin gehört hat. Aischa hatte ihrer Tochter die Hochzeit mit einem Islamisten verweigert. Religiöser Extremismus, das war nichts, was sich die gläubige Muslima für ihre Kinder wünschte. Doch die verliebte Tochter wollte nichts hören. Tauchte mit dem Mann nach Syrien ab – der aber hatte noch fünf Mädchen und sieben Burschen aus der muslimischen Gemeinde in Stockholm mit nach Syrien gelotst. Mehrere von ihnen, bestätigt Aischa, "werden nicht wiederkehren. Wir wissen, dass sie tot sind."

Auf dem Podium sitzt auch Judy. Ihr Sohn büßt eine Gefängnisstrafe ab. Der junge Brite war zum Islam konvertiert, gab sich streng gläubig, aber friedliebend. Eines Nachts läutete die Polizei an der Tür. Fassungslos sah Judy mit an, wie ihr Junge verhaftet wurde: Er hatte in London eine Bombe zünden wollen. "Am Anfang", erinnert sich Judy, "war er wie gehirngewaschen, unmöglich, mit ihm zu reden. Dass es für ihn eine Chance zurück geben wird, verdanken wir nur einem Imam. Der kam ihn drei Mal in der Woche in der Zelle besuchen, drei Jahre lang. Und der hat ihm vor Augen geführt, was Religion und Glaube wirklich bedeuten können."

Die Pläne der britischen Regierung, Syrien-Kämpfer nicht wieder einreisen zu lassen, hält Judy "für eine ganz schlechte Idee". Die allermeisten Jugendlichen kehrten völlig geschockt und traumatisiert zurück. "Und wenn sie nur den anderen erzählen, wie schrecklich es war, vielleicht hilft das schon, ein paar vom Gehen abzuhalten."

*Namen geändert

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