Weltflüchtlingstag: "Bis zum nächsten Tag überleben"

Palästinensisches Flüchtlingslager Yarmuk in Damaskus, Syrien.
Weltweit gab es nie mehr registrierte Flüchtlinge als jetzt. In dieser Lage fast vergessen: Millionen palästinensischer Flüchtlinge, vor allem jene in Syrien.
Weltflüchtlingstag: "Bis zum nächsten Tag überleben"

Sein Auftrag ist es, 5,5 Millionen Menschen in Syrien, Gaza, dem Westjordanland, Jordanien und dem Libanon zu schützen. Der Schweizer Pierre Krähenbühl ist UN-Generalkommissar für Palästinaflüchtlinge (UNRWA). Mit dem KURIER sprach er in Brüssel vor dem heutigen Weltflüchtlingstag über
....die verzweifelte Lage der Palästinenser in Syrien:

Vor dem Krieg haben 560.000 palästinensische Flüchtlinge in Syrien gelebt. 440.000 sind jetzt noch dort, davon sind 65 Prozent intern vertrieben. Sie haben kein Einkommen, 95 Prozent sind völlig von unserer humanitären Hilfe abhängig. Das ist erneut eine Generation von Palästinensern, die Erfahrung macht, alles zu verlieren: Haus, Wohnung, Arbeitsplatz, Schule, Nachbarn, Freunde, Familienangehörige. Die Syrer haben natürlich mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Aber noch einmal vertrieben werden, nach der Flucht zwischen 1946 und 1948, das ist ein spezielles Trauma.


..die Schwierigkeit mitten im Krieg die Menschen weiter zu versorgen
Die UNRWA-Strukturen existierten schon lange vor dem Krieg. Wir sind ja seit 60 Jahren in Syrien, wir haben 3700 Angestellte, fast alle sind Palästinenser. Insofern sind wir, also auch im Gazastreifen, Westjordanland Teil des institutionellen Rückgrates im Westjordanland. 700 Schulen , 100 Kliniken – wir sind eine quasi staatliche Dienstleistungsstruktur. Weil wir dieses Personal haben, können wir von Normalaktiviät auf Krisenaktivität schalten und dann wieder zurück. Das war auch beim Gazakonflikt so. Da haben wir 90 unserer Schulen in Schutzräume verlagert und dort gemanagt. Allerdings zu einem hohen Preis. Wir haben 20 Kollegen verloren und 25 sind vermisst.


...die Situation in der syrischen Stadt Aleppo
Was die Sicherheit angeht, ist es heute ein wenig besser. Aber um die humanitären Grundbedürfnisse steht es nach wie sehr schlimm, es gibt noch keinen Wiederaufbau. So ein Ausmaß an Zerstörung habe ich in 25 Jahren meiner Arbeit in Kriegsgebieten noch nicht gesehen. Da gibt es Kilometerlange Häuserzeilen, die vollkommen zerstört sind. Man ist immer noch damit beschäftigt, von einem Tag auf den anderen zu überleben.


...die Möglichkeiten zurückzukehren
Es gibt Stadtteile in Damaskus, wohin man zurückkehren kann, dort konnten wir wieder Schulen und Kliniken eröffnen. Aber nach wie vor sind 95 Prozent der Palästinenser völlig abhängig von humanitärer Unterstützung. Am Anfang des Krieges hatten manche reichere Familien noch Reserven. Aber nach sechs Jahren Konflikt hat die keine Familie mehr.


....einen Hauch Zukunftsperspektive
Für mich ist es umso wichtiger, die Schulen offen zu halten. Bei einigen gibt es aus Sicherheitsgründen natürlich keinen Zugang, oder die Schulen sind zerstört. Vor dem Krieg hatten wir 66.000 palästinensische Kinder in den syrischen Schulen. Dann sank die Zahl nach einem Jahr Krieg auf 20.000. Jetzt sind wir wieder bei über 40.000 Kindern. Vergangenes Jahr haben wir 120 Kinder aus dem Flüchtlingslager Yarmuk geholt, damit sie ihre Prüfungen ablegen konnten. Das hat mich sehr beeindruckt: Diese Kinder konnten kaum überleben und hatten doch die Kraft, ihre Examen zu schaffen.


... Arbeitsmöglichkeiten für die palästinensischen Flüchtlinge
Im Libanon haben sie keinen Zugang zu Arbeitsplätzen. In Jordanien haben einige vergleichbare Rechte mit Jordaniern erhalten und dürfen arbeiten. Im Westjordanland kommt es auf die wirtschaftliche Lage an und in Gaza sind 45 Prozent der Bevölkerung arbeitslos, und 65 Prozent der Jugend. Das ist ein negativer Weltrekord und trägt zu einer sehr großen Frustration bei.


...die Spannungen in Gaza
Im Gazastreifen gibt es 260.000 Schülerinnen und Schüler. Sie haben keine Bewegungsfreiheit, 90 Prozent haben den Gazastreifen nie verlassen. Sie werden keine Arbeit finden können, sie haben einen Israeli noch nie in ihrem Leben gesehen. Ich frage mich oft, wie man sich das vorstellt: Wie soll das zu einer besseren Lage beitragen? Das kann so nicht weiter gehen. Und das wird nicht geregelt werden durch mehr humanitären Einsatz.
Im Augenblick schaut die Welt in einen andere Richtung, zu recht: Syrien, Irak, Jemen, Libyen, Somalia. Dabei übersieht man aber, was Menschlich dort geschieht und welche negativen Grundlagen für ein künftiges Zusammenleben geschaffen werden. Pro Jahr vergeben die israelischen Behörden in Gaza nur 10.000 Reiseerlaubnisse. Das entspricht etwa der Chance, einmal in 180 Jahren, aus dem Gazastreifen ausreisen zu dürfen. Die Blockade durch Israel besteht seit 2007, seit der Machtübernahme der Hamas. Ich kenne kein Beispiel, wo die Lage einfach besser wird, oder wo die Polarisierung abnimmt ohne politischen Prozess. Es braucht mehr Mut, größeren politischen Willen, gerade, weil es schwierig ist.

Das weltweite Ausmaß von Flucht und Vertreibung, verursacht durch Krieg, Gewalt und Verfolgung, hat 2016 den höchsten jemals registrierten Stand erreicht, heißt es in einem Bericht des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR): 65,6 Millionen Menschen.

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