Was die EU bei einer Brexit-Verschiebung riskiert
Mit einer Verlängerung der Brexit-Verhandlungsfrist wäre zwar zunächst das Gespenst eines "harten Brexit" mit einem drohenden Verkehrschaos, Versorgungsengpässen und Zoll-Warteschlangen abgewendet, aber für die EU ist die Fristerstreckung nicht ohne Risiken. Dass die britische Premierministerin Theresa May von der EU die beantragte Verlängerung bis Ende Juni bekommt, davon gehen Diplomaten aus.
"Wir würden das genehmigen, besser wäre aber eine Verlängerung nur bis zum 22. Mai", sagte ein ranghoher EU-Diplomat. Rechtlich wäre dieses Datum nämlich sicherer in Hinblick auf die von 23. bis 26. Mai stattfindenden Europawahlen.
Meinungsunterschiede der EU-Staaten
Dabei seien aber bereits Meinungsunterschiede der EU-Staaten erkennbar, sagte ein anderer EU-Diplomat. Während die osteuropäischen Staaten als flexibel gelten, würden Frankreich und Spanien viel detailliertere Bedingungen von Großbritannien für eine Verlängerung fordern. Auf jeden Fall wird May dem EU-Gipfel eine "Wegskizze" präsentieren müssen, wie die nächsten Schritte aussehen. Die EU hofft auf eine Annahme des im November geschlossenen Brexit-Austrittsvertrags im dritten oder vierten Anlauf, dazu müsste das Unterhaus in Westminister nochmals über den Deal abstimmen.
Teilnahme an EU-Wahlen unklar
Die EU-Wahlen und eine drohende Nicht-Beteiligung der Briten stellen eine der größten Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Brexit-Fristverlängerung dar. Die Teilnahme an den Europawahlen ist eine Verpflichtung für jeden EU-Mitgliedsstaat, die sich aus den EU-Verträgen ergibt. Am 2. Juli konstituiert sich das neu gewählte EU-Parlament. Wenn Großbritannien bis dahin keine Abgeordneten gewählt hat, dürfte die Legitimität des nächsten Europaparlaments als ganzes angefochten werden.
May soll nach dem EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag gemeinsam mit EU-Ratspräsident Donald Tusk und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker vor die Presse treten. Werden beim Gipfel nicht alle Fragen gelöst, könnte bereits nächste Woche schon wieder ein Sondergipfel in Brüssel zusammentreten, um einen "harten Brexit" ohne Deal zwischen Großbritannien und der EU abzuwenden. Dieser Sondergipfel wäre dann wohl "in letzter Minute", also am 29. März, wenn die Frist um Mitternacht endet und Großbritannien ab dem 30. März aus der EU ausscheiden würde, wenn die Verhandlungen nicht doch noch verlängert werden.
Mit einer Verlängerung alleine wären keine inhaltlichen Probleme gelöst. Hauptproblem für Großbritannien ist die Auffangregelung für eine offene Grenze zwischen dem zum Königreich gehörenden Nordirland und dem EU-Mitglied Irland. Dieser "Backstop" würde Großbritannien an die Zollunion mit der EU binden, auch wenn die EU mehrfach erklärt hat, dass diese Lösung nur temporär greifen soll. Die EU hat mehrfach betont, dass sie den Austrittsvertrag nicht mehr aufschnürt.
Sollte Großbritannien länger in der EU bleiben, würde die Europäische Union im schlimmsten Fall britische Instabilität importieren. Großbritannien wäre dann möglicherweise weiter auf Austrittskurs, würde aber in der nächsten EU-Kommission einen Kommissar haben, im EU-Parlament Europaabgeordnete und bei wichtigen Entscheidungen der EU - etwa zu China und anderen Fragen - mit am Tisch sitzen. So könnte London auch noch den milliardenschweren EU-Finanzrahmen blockieren, der die Finanzierung der EU ab 2021 sicherstellen soll, warnen Diplomaten in Brüssel.
In Brüssel mischen sich Verzweiflung mit Ärger und Verwunderung über Großbritannien. "Wir stecken in tiefen Schwierigkeiten wegen ihnen (der Briten, Anm.)", sagte ein Diplomat. Er könnte nicht einmal seinen Angehörigen erklären, wie es dazu gekommen wäre, wenn Großbritannien die EU ohne Abkommen verlässt. "Die gegenseitigen Schuldzuweisungen wären in einem solchen Fall besonders garstig. Das kann sich leicht gegen die ganze EU richten."
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