Öffentliche Diskussionen mit den örtlichen Kandidaten der politischen Parteien werden sehr schnell zu einer Abrechnung mit dem vermeintlichen politischen Versagen. Hier ist es der Zug, der entweder gar nicht mehr oder bis heute mit Diesel fährt, dort die seit 20 Jahren überfällige Ortsumfahrung und natürlich die neuen Jobs, die hier bei jeder Wahl versprochen werden und nie kommen. In den Stadtzentren im Norden, egal ob Manchester oder Leeds, ist die neue Zeit längst eingezogen, gibt es neue Unternehmen, moderne Universitäten. Wer die aber hinter sich lässt, in die Vorstädte oder kleineren Orte kommt, versteht, warum sich viele gerade in Nordengland von der Zukunft abgehängt und von denen „da unten in London“ missachtet und vernachlässigt fühlen.
„Großbritanniens politische Verwaltung ist unglaublich zentralistisch“, erklärt der Labour-Europaparlamentarier Richard Corbett: „Das heißt, die Regierung in London entscheidet im Alleingang über die Investitionen. Wenn Geld in den Norden fließt, dann in die großen Städte, rundherum aber wird alles kaputtgespart.“
Corbett, als Labour-Politiker, macht dafür natürlich die Konservativen verantwortlich, die immerhin seit fast zehn Jahren in Großbritannien an der Regierung sind. Die Wähler hier sehen das anders. Die Regionen im Norden sind traditionelle Labour-Hochburgen, seit Generationen schickt man aus Dutzenden Wahlkreisen Labour-Abgeordnete ins Parlament nach London. Also macht man auch die für die chronische Krise verantwortlich.
Bei der Volksabstimmung über den EU-Austritt 2016 gab es im Norden die größten Mehrheiten für den Brexit. Die politische Frustration, die schwindende Hoffnung auf bessere Jobs, all das kanalisierten Politiker wie der damalige UKIP-Chef Nigel Farage und der Konservative Boris Johnson in die Hoffnung auf die Chancen, die die Befreiung aus den Fesseln der EU bieten würden. Drei Jahre später steckt die britische Regierung im Brexit-Chaos fest, Johnson ist Premier und geht mit einem unablässig gedroschenen Slogan in die Parlamentswahl am kommenden Donnerstag: „Kriegen wir den Brexit endlich hin.“
Bei vielen traditionellen Labour-Wählern im Norden greift der Slogan gut. Jetzt also endlich soll es so weit sein: der Brexit als Hoffnung auf die Zukunft, die ohnehin schon so lange überfällig ist. „Ein verdammt guter Einzeiler, dieser Slogan“, gesteht Corbett ein, „und wir müssen dann im Gespräch mit den Menschen zu langen Erklärungen ausholen, warum das alles so nicht funktionieren wird mit dem Brexit – und mit den Investitionen.“
Doch wer will schon Erklärungen in einem Wut-Wahlkampf hören, in dem die EU-Gegner diese Wut so klar in Worte fassen können. „In London sitzen sie und faseln vom Wirtschaftskraftwerk im Norden, aber in Wahrheit sitzen wir in einer Baracke“, donnert ein Vertreter der Brexit-Partei bei einer Diskussion in Stalybridge, einem Vorort von Manchester.
Judith und Jim, ein älteres Ehepaar, lauscht solchen Ausbrüchen mit resignierter Gelassenheit. Was könne man erwarten in einem Ort, in dem auch morgen früh wieder die Menschen vor der Essensausgabe der Sozialhilfe Schlange stehen würden: „Die Menschen hören, dass sie im sechstreichsten Land der Welt leben, und müssen sich zwischen Essen kaufen und Heizung bezahlen entscheiden“, erzählt Judith über den Alltag im Ort:„Wie soll man da nicht wütend sein.“
Ein Leben lang habe man Labour gewählt, diesmal aber nicht mehr, das hört man oft in Gesprächen. Jetzt müsse endlich einmal Schluss sein mit dem politischen Tauziehen, erzählen die, die sich diesmal für Boris Johnson entscheiden wollen. Jene, die ohnehin nur noch ihren Überdruss über die ganze Politik loswerden wollen, sind entschlossen, ihre Stimme der Brexit-Party zu geben.
Vieles davon klingt eher wie ein zorniger Hilferuf als eine durchdachte politische Entscheidung. Denn warum man nicht mehr Labour wählen werde, auch dafür ist die Erklärung, die viele parat haben, simpel, aber einleuchtend: Die würden den Menschen im Norden ohnehin nicht mehr zuhören. Wie groß die Distanz zwischen der Arbeiterpartei und ihren Wählern in diesen verarmten Regionen geworden ist, bringt die Politik-Expertin Eunice Goes auf den Punkt:„Die wollen nichts von Klimakatastrophe hören, sondern Weihnachtsgeschenke für ihre Kinder kaufen können.“
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