Vor den Wahlen in der Türkei „wird der Durchgriff noch härter werden“

Vor den Wahlen in der Türkei „wird der Durchgriff noch härter werden“
Menschenrechtler sehen Erdoğans vorgezogenem Wahlgang mit großer Sorge entgegen.

Zülfiye hatte es befürchtet: Doch als der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan in der Vorwoche überraschend vorgezogene Neuwahlen ankündigte, fühlte sich die Universitätsassistentin aus Istanbul überrumpelt. Die Expertin für türkisches Verfassungsrecht weiß nur zu gut, was dieser Schachzug bedeutet – mit dem Wahlgang wird früher als erwartet die neue Verfassung wirksam: „Noch Ende Juni werden wir einen Präsidenten haben, der alle Macht in seinen Händen hält. Er kann das Parlament umgehen, er kann dann per Dekret regieren.“

Zusammen mit drei anderen türkischen Menschenrechtsaktivisten reiste die junge Frau auf Einladung der liberalen Friedrich Naumann-Stiftung nach Brüssel, um Zeugnis abzulegen. Zeugnis von einem Land, „in dem die Justiz benutzt wird, um die Unterdrückung zu institutionalisieren“, schildert Anwalt Veysel Ok. Entsprechend brachial krempelte die regierende AK-Partei das Justizsystem um: 3000 Richter sind im Gefängnis, zudem 570 Anwälte. Immer mit dem Risiko selbst verhaftet zu werden, verteidigen Ok und die Kollegen der kleinen Hilfsorganisation MLSA elf der 180 inhaftierten Journalisten. Und vor den Wahlen, so befürchtet der unabhängige Jurist, „wird alles noch schlimmer, der Durchgriff noch härter werden“.

Mehr als 50.000 Türken wurden seit dem gescheiterten Putschversuch im Sommer 2016 verhaftet, gegen 100.000 wird ermittelt, über 170.000 wurden aus dem Öffentlichen Dienst entlassen. Nahezu alle kritischen Medien wurden geschlossen. „Alles ist in der Türkei gefährlich geworden“, meint der Journalist Yildiz, „allein schon das Wort ,Menschenrechte’ laut auszusprechen.“ Und der Name Taner Kilic fällt – der Präsident der türkischen Sektion von Amnesty International sitzt seit einem Jahr im Gefängnis.

Kritik der EU

Anerkennend nicken die vier türkischen Aktivisten auf dem Brüsseler Podium über die jüngste, harsche Kritik der EU an den „Rückschritten“ in der Türkei. Ändern aber werde dies nichts. „Ich erwarte nichts von den Traurigkeitsbekundungen aus Europa“, meint Zülfiye trocken.

Täglich vollführt die Uni-Assistentin das Kunststück, ihre 200 Studenten Verfassungsrecht zu lehren, wie es idealerweise sein sollte. Spätestens im Sommer wird es ganz auf Erdoğan zugeschnitten – und Zülfiye möglicherweise ihren Job los sein.

Rund ein Fünftel der Akademiker in ihrem Umfeld wurden entlassen, nachdem diese eine Petition für eine friedliche Beilegung des Kurdenkonfliktes im Südosten des Landes gefordert hatten. Seit Zülfiye wiederum gegen diese Entlassungswelle protestierte, ist auch ihre Karriere gefährdet. Sie müsse einen Sicherheits-Check machen, hieß es plötzlich. Und sie weiß: Wer den ominösen Test nicht besteht, hat keinen Job mehr. Zülfiye weiß aber auch: Die Türkei wird sie trotz allem nicht verlassen. „Ich will in meinem Land bleiben. Meine Kollegen und ich, wir sind noch da. Wir leben noch.“

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