Von Tagen, die die Freiheit brachten
Ende November 1989, die ersten Tage der "Samtenen Revolution" in Pressburg (Bratislava). Die Studenten halten die Kunstakademie im Stadtzentrum besetzt. Die Anspannung ist unerträglich: Kommt es zur gewaltsamen Räumung oder nicht?
Meist ältere Pressburger unterstützen die Studenten und bringen ihnen Schlafsäcke, Thermosflaschen, Kuchen und Brote. Unterschriftslisten liegen auf: Die führende Rolle der Kommunistischen Partei (KP) soll fallen. Ein Komitee bespricht die weitere Taktik. Studenten sollen in die Provinz fahren, um die Bevölkerung von den Geschehnissen in den Städten der kommunistischen ČSSR zu informieren. Die staatlichen Medien trauen sich noch nicht, darüber zu berichten. Die Revolution steht auf der Kippe. Die Volksmiliz ist in Bereitschaft. Die entscheidende Frage ist, ob sich die Arbeiter aus den großen Kombinaten den Studenten anschließen. Für den 10. Dezember wird ein Generalstreik in der ganzen Tschechoslowakei ausgerufen.
Warum nicht auch hier?
Die meisten westlichen Journalisten sind in Prag, ich berichte aus meiner Heimatstadt Bratislava – getarnt als Hausfrau. Als Journalistin hätte ich kein Einreisevisum bekommen. Ich bin trotz der Anspannung optimistisch. Ich habe ja gesehen, was an der ungarischen Grenze und in Berlin möglich war. Warum nicht auch hier? Auch meine alten Freunde, noch aus Kindheitstagen, begegnen mir jetzt anders. Wenngleich die Furcht vor dem Regime ihnen noch immer tief in den Knochen sitzt.
Freigekauft
Ich war 1968, in den warmen Zeiten des Prager Frühlings, nach Wien gekommen – und nicht mehr zurückgekehrt. Es hat vier Jahre gedauert, bis ich das erste Mal wieder in meine Heimat fahren durfte. Für diese sogenannte Legalisierung musste mein österreichischer Ehemann in der Botschaft ein Packerl mit Tausend-Schilling-Scheinen auf den Tisch legen. Offiziell als Abgeltung für mein Hochschulstudium. Im Gegenzug hatte ich jetzt als Österreicherin zumindest hin und wieder die Chance auf ein Einreisevisum – wenngleich die Vergabe sehr willkürlich geschah.
Die Rückkehr wurde zum Rückschlag. Außer meiner engsten Familie wollte mich niemand sehen. Die Schulfreunde hatten Angst vor Repressalien. Sie baten mich, nie wieder zu kommen: Sie müssten über jeden Besuch aus dem imperialistischen Westen der Polizei berichten. Auf der Straße wechselten Bekannte die Seite, wenn sie mich sahen. Wann und wie oft ich meine Eltern sehen konnte, oblag der Willkür der KP. Manchmal trafen wir einander daher in Ungarn – Zeit und Ort vereinbart mit Geheimcodes. Post und Telefon wurden überwacht. In Ungarn war es auch, wo ich meinen Eltern ihr erstes Enkerl endlich zeigen konnte.
Und jetzt, im grauen November 1989, könnte endlich alles anders werden? Tschechen und Slowaken schöpfen nach dem Fall der Berliner Mauer Hoffnung. In Prag übernimmt das Bürgerforum mit Vaclav Havel die Führung der Revolution, in Pressburg das Forum Öffentlichkeit gegen Gewalt. Die Zelte werden im "Mozart-Haus" aufgeschlagen, wo die Hochschule des Marxismus-Leninismus in Pressburg logiert.
Ungläubiger Jubel
Im Barockpalais herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Plötzlich stürmen vier gerade erst freigelassene Dissidenten herein – sie werden umjubelt und umarmt. Einem davon, Jan Carnogursky, wird eine Krawatte umgehängt, dann wird er sofort als slowakischer Abgesandter nach Prag geschickt. Ich mache ein Foto von ihm, das der KURIER später zig Mal an die westliche Presse verkaufen wird können: Aus dem Dissidenten Carnogursky sollte nur 14 Tage später der erste Vize-Ministerpräsident der Tschechoslowakei werden.
Am 1. Dezember passiert das Unvorstellbare: Die Grenze zwischen Österreich und der Tschechoslowakei wird geöffnet. Auch alle Emigranten dürfen ohne Visa einreisen. 100.000 Pressburger brechen zu einem Freudenmarsch nach Hainburg an der Donau auf. Und der KURIER titelt: Die Tschechen kommen. Trotz lauten Protests konnte ich die Kollegen in Wien nicht davon überzeugen, dass es sich um Slowaken handelt – die Unsichtbarkeit der Slowakei war mit ein Grund für die spätere Trennung.
Chefredakteur Franz Ferdinand Wolf lässt mich rufen: "Ab sofort erscheint ein KURIER auch auf Slowakisch, und Sie gestalten ihn." Die Ausgabe wird Tag für Tag nach Pressburg und ins nahe Grenzland transportiert und gratis verteilt. Die Slowaken reißen uns die Zeitungen aus den Händen.
Dass ich ab jetzt ohne Grenzkontrollen in meine alte Heimat fahren kann, war für mich noch lange, lange Zeit kaum zu glauben. Noch heute, 25 Jahre danach, geht es mir so.
Es wäre nicht Vaclav Havel gewesen, wenn er nach seinem Einzug auf die Prager Burg am 1. Jänner 1990 nicht auch die tschechoslowakische Außenpolitik komplett umgekrempelt hätte. 40 Botschaftsposten wurden neu besetzt, nicht mit Beamten, sondern mit unkonventionellen Persönlichkeiten. Für Wien bestimmte der Dramatiker Havel den Film- und Theater-Star Magda Vasaryova. „Havel wusste, dass ich einige Fremdsprachen kann“, erzählt die Slowakin im KURIER-Gespräch.
So wechselte die zweifache Mutter nach einem zweimonatigen Crashkurs in Diplomatie von den Theaterbrettern aufs diplomatische Parkett in Wien. „Bis zu dem Zeitpunkt kannte ich Österreich nur aus dem Fernsehen von 20 Jahren ORF-Programm.“
Versperrte Türen
„In Wien angekommen, wollte ich die Botschaftsräume inspizieren. Manche Türen waren versperrt. Die alten Mitarbeiter konnten es nicht glauben, dass es bei der politischen Wende bleiben wird. Sie sagten mir, dass ich eh bald abberufen werde. Erst nach drei Wochen bekam ich endlich die Schlüssel. Ich entdeckte einen Atombunker, riesige Abhörapparaturen unterm Dach. Alles war mit Mikrofonen verwanzt, selbst die Autos“, erinnert sich Vasaryova.
„Meine Aufgabe war es auch, unser Personal zu säubern, die Geheimdienst-Spitzel zu finden – die Botschaft zählte damals 125 Mitarbeiter. Die als Spione Entlarvten mussten binnen 24 Stunden gehen – nie habe ich so viele Männer weinen gesehen. Manche sind in Österreich geblieben, zu der Zeit war Wien das Mekka der Agenten.“
Daneben blieben noch einige Verpflichtungen auf der Bühne, die Magda Vasaryova absolvieren musste, da in Bratislava kein Ersatz für sie gefunden wurde. „Nach der allerletzten Vorstellung meines Lebens, eine Komödie von Ostrovski, traute ich meinen Augen nicht: Vor mir stand der Chefdiplomat Alois Mock mit einem großen Blumenstrauß, und das halbe Außenministerium aus Wien saß im Zuschauerraum.“
Die Trennung
Bald bekam die tschechoslowakische Eintracht Risse. „Dass es zu einer Trennung kommen würde, wusste ich schon im Frühjahr 1992 und warnte Prag. Aber dort glaubten sie mir nicht. Als das Ende der CSSR kam, bat mich Vaclav Havel in Wien zu bleiben, als tschechische Botschafterin. Ich lehnte ab. In der hitzigen Atmosphäre hätte ich aus der Slowakei definitiv wegziehen müssen und auch noch die Gräber meiner Eltern mitnehmen müssen.“ Vasaryova war die erste und die letzte Botschafterin der vom Kommunismus befreiten Tschechoslowakei.
Was bedeutet der November 1989 für ihr Land? „Alles. Europa, Demokratie, freie Wahlen, NATO, Euro, Schengen. Damals ist ein Wunder geschehen, das wäre heute nicht möglich. Im Kreml weht jetzt ein anderer Wind.“
16. November 1989 Auftakt der „Samtenen Revolution“ mit einer Großdemonstration für Freiheit und Demokratie in Pressburg (Bratislava). Sie verläuft friedlich.
17. 11. Studentenkundgebung in Prag wird zur größten Demonstration für Demokratie und Freiheit in der ČSSR seit 20 Jahren. Sie wird von der Polizei niedergeknüppelt.
19. 11. Gründung des Bürgerforums in Prag und der slowakischen Öffentlichkeit gegen Gewalt als Sprachrohr der Demonstranten.
23. 11. Maschinenbau-Arbeiter pfeifen Prags KP-Chef Miroslav Stepan bei einer Rede aus.
24. 11. Bürgerrechtler Vaclav Havel und Alexander Dubcek, Symbolfigur des Prager Frühling von 1968, fordern auf dem Prager Wenzelsplatz den Rücktritt der kommunistischen Führung. Am Abend tritt KP-Generalsekretär Milos Jakes zurück. Rundfunk und Fernsehen beschließen Ende der Zensur.
27. 11. Zweistündiger landesweiter Generalstreik für „Ende der Herrschaft einer Partei“.
10. 12. Am internationalen Tag der Menschenrechte „Marsch nach Hainburg“. An die hunderttausend Slowaken überschreiten die Grenze nach Österreich, um ihre „Rückkehr ins freie Europa“ zu feiern.
28. 12. Wahl von Dubcek zum Parlamentspräsidenten.
29. 12. Havel wird Präsident.
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