Verschieben – das Zauberwort im Brexit-Chaos

"Betrug" wittern diese Brexit-Anhänger hinter einer möglichen Verschiebung des EU-Austrittes
Labour fordert ein zweite Referendum. In London könnten diese Woche die ersten Würfel fallen – gegen einen harten Brexit.

31 Tage oder plus/minus 750 Stunden – dann wird Großbritannien die Europäische Union verlassen. Und wie es derzeit noch immer aussieht: ohne einen geregelten Scheidungsvertrag. 

Doch je näher das fatale Datum heranrückt, umso rebellischer agieren die Abgeordneten im britischen Unterhaus und wollen Premierministerin Theresa  May das Heft des Handelns entreißen. Am Mittwoch könnte ein entscheidender Schritt in diese Richtung gesetzt werden. So will Labour nun plötzlich doch ein zweites Referendum unterstützen.

Nach langem Zögern nimmt die Oppositions-Partei nun diese Wende. Eine solche Volksabstimmung solle verhindern, „dass dem Land ein schädlicher Tory-Brexit aufgezwungen wird“, sagte Parteichef Jeremy Corbyn am Montagabend. 

Doch ob der Antrag, der am Mittwoch ins Parlament eingebracht wird, durchgeht, ist noch fraglich.  Viele Tory-Abgeordnete müssten mitstimmen. Bei den Konservativen gilt der Appetit auf eine zweite Runde für eine Volksabstimmung als gering.Und in den Reihen der linken Oppositionspartei gibt es wiederum einige Abgeordnete, die für den Brexit eintreten.

Gute Chancen hat ein Antrag, der tatsächlich einen harten Brexit vorerst verhindern könnte: 

Das Parlament soll am 13. März über ein Gesetz abstimmen, das die Regierung zwingen würde, in Brüssel um eine Verlängerung des Austrittsdatums anzusuchen. Dies für den Fall, dass der Brexit-Vertrag bei der nun für 12. März angesetzten  Abstimmung  im Parlament erneut durchfällt. So soll ein harter Brexit am 29. März auf alle Fälle vermieden werden.

Selbst drei Minister aus Mays Kabinett haben am Wochenende gefordert, den EU-Austritt zu verschieben, sollte das britische Parlament weiter dem EU-Scheidungsvertrag nicht zustimmen. Und sogar bis zu 30 konservative Parlamentarier wollen über alle Parteigrenzen hinweg für diese gesetzliche Notbremse stimmen: nur kein harter Brexit und das damit unweigerlich folgende Chaos!

Offene Türen in der EU In der EU würde die britische Regierung mit einer Bitte um Verschiebung des Brexit offene Türen einrennen. Bundeskanzler Sebastian Kurz stellt diese Möglichkeit schon seit Monaten in den Raum. Den Antrag aber kann nur London stellen, die EU-Staats- und Regierungschefs würden ihm beim Gipfel am  21. März einhellig grünes Licht geben.

Verschieben – das Zauberwort im Brexit-Chaos

Kanzler Kurz im Gespräch mit Premierministerin May

Die Frage allerdings bleibt: verlängern, wie lange? Britischen Medien zufolge soll eine zusätzliche Frist von zwei Monaten herausgeschlagen werden. Selbst eine Verlängerung bis 1. Juli wäre kein Problem.

Der britische Guardian meldete gar, die EU prüfe die Möglichkeit einer Verlängerung bis Ende kommenden Jahres. In der EU-Kommission wies man dies gestern auf KURIER-Anfrage als „reine Spekulation zurück“. Nach wie vor gehe man  davon aus, dass das Vereinigte Königreich am 29. März die Union verlassen werde.

Eine Verlängerung der britischen EU-Mitgliedschaft um fast zwei Jahre aber hätte für London zweifellos Vorteile: Großbritannien könnte weiter in der EU mitentscheiden und schon jetzt damit beginnen, die zukünftigen Beziehungen zur EU zu verhandeln. So könnte möglicherweise vermieden werden, dass der in  London so bekämpfte Backstopp (Notfallklausel zur Nordirlandgrenze) je in Kraft tritt.  
Zahlen muss Großbritannien sowieso – auch bei einem harten Brexit pocht die EU auf die bestehenden Verträge. Allein heuer muss das Vereinigte Königreich  nach April noch sieben Milliarden Euro ins EU-Budget überweisen. 2020 sind es weitere 45 Milliarden.

Der Schönheitsfehler bei einer Verlängerung über den 1. Juli hinaus bleiben die Wahlen zum  EU-Parlament. Gewählt wird zwar schon Ende Mai. Aber selbst wenn britische Abgeordnete nicht mehr am Urnengang teilnehmen, tritt das neue Parlament erst am 2. Juli zusammen. Und bis dahin gelten noch die  Regeln des alten Parlaments. 

Im EU-Parlament in Brüssel geht man nun davon aus: „Bleiben die Briten doch länger in der EU, nehmen sie an den Wahlen im Mai teil. Wenn sie das zeitmäßig nicht mehr schaffen, müssen sie eben Nachwahlen für ihre europäischen Volksvertreter abhalten“, schildert eine Parlamentssprecherin dem KURIER.

Derzeit zählt das EU-Parlament 72 britische Abgeordnete. Doch bei den Wahlen werden die 72 Sitze nicht einfach eingespart. Das Parlament wird zwar von 751 auf 705 Sitze verkleinert, aber die restlichen Mandate werden unter den 27 anderen Staaten aufgeteilt. 
Auf diese Weise wird Österreich einen Parlamentssitz mehr erhalten  und damit 19 EU-Abgeordnete haben. Müssten die Briten nachwählen, wäre dieses zusätzliche österreichische Mandat schon wieder gestrichen. 

Alles beim Alten also? Andere Juristen in Brüssel legen sich quer und verweisen auf die geltenden EU-Verträge. Darin heißt es unter anderem: „Die Mitglieder des Europäischen Parlaments werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt.“ 

Von einer Verlängerung der britischen EU-Mitgliedschaft von fünf Jahren aber ist nie die Rede. Deshalb, so die Rechtsmeinung einiger EU-Diplomaten, wären EU-Wahlen, bei denen manche Abgeordnete nur für rund eineinhalb Jahre antreten, überhaupt nicht gültig.

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