US-Historiker Timothy Snyder: „Nationalstaat? Ein Mythos“

US-Historiker Timothy Snyder: „Nationalstaat? Ein Mythos“
Rede zum Europatag in Wien. Der US-Historiker verteidigt das Projekt des Vereinten Europa

70 Jahre, das ist ein Alter, in dem man Entscheidungen fällen müsse“, meint Timothy Snyder. Und die EU sei nun einmal gerade 70 geworden. Also habe Europa jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder sich die eigene Geschichte so zurechtzurücken, wie man sie gerne hätte, also den eigenen Mythen glauben, oder „das eigene Geschichtsbild zu korrigieren und den Blick auf die nächste Generation zu richten.“

Geschichte neu gedacht

Der US-Historiker hielt am gestrigen Europatag, dem 9. Mai, auf dem Wiener Judenplatz „Eine Rede an Europa“. Die Wiener Festwochen hatten ihn gemeinsam mit der Erste Stiftung dazu eingeladen. Und Snyder, der mit „Bloodlands“ schon die Geschichte Osteuropas im 20.Jahrhundert quasi neu geschrieben hat, sollte auch diesmal einige scheinbar unantastbare Wahrheiten zurechtrücken. „Ich möchte als Historiker einfach klarstellen, dass die Erinnerung vieler in Europa einfach falsch ist“, scherzte Snyder schon vor dem Auftritt.

Gescheiterte Imperien

Falsch sei schon die Geschichte der Gründung der EU: Eine Handvoll Nationalstaaten habe sich nach dem Zweiten Weltkrieg zusammengefunden, um in Zukunft friedlich zusammenzuarbeiten. Doch für Snyder ist diese Hauptrolle für die Nationalstaaten ein Mythos, wie er auf Anfrage des KURIER erläutert: „Die ganze Geschichte Europas ist eine Geschichte von Imperien – und die EU ist die Erfolgsgeschichte, wie man darüber hinwegkam.“

Der US-Historiker betrachtet Europa nach dem Zweiten Weltkrieg als eine Versammlung gescheiterter Imperien: Von zerfallenden Kolonialreichen wie Großbritannien oder den Niederlanden bis zum besiegten Nazi-Deutschland, das Europas Osten zu seiner Kolonie machen wollte. Die Grundfrage, wie Snyder sie formuliert, war daher: „Sollte man diese Reiche wieder errichten, sollte man auf Nationalstaaten setzen, oder sollte man etwas gänzlich Neues machen: Die europäische Integration.“

Geschichte ausgetrickst

Allein diese Idee habe Europa vor den bitteren Konsequenzen aus der Geschichte bewahrt: „Europa hat die Geschichte ausgetrickst“. Denn statt der Trümmerlandschaften, die normalerweise auf dem Boden zerfallender Großreiche entstehen, sei in Europa heute der stärkste Wirtschaftsraum der Welt entstanden. Für Snyder eine Entwicklung, die viele in ihrer Tragweite noch gar nicht erkennen können: „Einfach weil diese Vereintes Europa etwas grundsätzlich Anderes, etwas völlig Neues ist.“

Gerade weil viele Europäer bis heute keine Vorstellung von der Größe dieser Idee hätten, würde man jetzt auf alte Ideen zurückgreifen: „Jetzt taucht wieder der Nationalstaat auf. Europa wird wieder als eine Handvoll an Nationalstaaten gedacht, die sich einen gemeinsamen Wirtschaftsraum schaffen.“ Das aber sei in Wahrheit nur ein Weg für Europa, um sich aus seiner globalen Verantwortung zu stehlen. Schließlich, so Snyder mit böser Ironie, „sehen sich Europas Nationen am liebsten als Opfer der Geschichte.“

Die EU als Antwort auf – und als Gegenmodell zu Imperien: Das ist für Snyder eine Perspektive, die erst den Blick auf die Möglichkeiten Europas in der Zukunft öffnet: „Erst wenn wir erkennen, was die EU wirklich ist, sehen wir auch, wozu sie als Modell in der Lage ist. Dann kann sie Europa stärker machen.“

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