Ultimatum an Kämpfer in Mariupol abgelaufen - Russland setzt Angriffe fort
Tag 52 im Krieg: Stunden der Entscheidung in Mariupol: Ein Ultimatum der russischen Armee an die ukrainischen Kämpfer in der strategisch wichtigen Hafenstadt ist am Sonntagnachmittag ausgelaufen, die verbliebenen Soldaten kapitulierten nicht. Der Fall Mariupols stünde unmittelbar bevor, meldete ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz am Sonntagabend. Im Stahlwerk der Stadt würden sich nur mehr wenige versprengte Kämpfer aufhalten.
Die russische Armee hat die Luftangriffe auf die heftig umkämpfte Hafenstadt Mariupol fortgesetzt. Das teilte der ukrainische Generalstab in seinem Lagebericht am Sonntagabend mit. Demnach gab es russische Raketen- und Bombenangriffen auf die Stadt. Dabei kämen auch Überschallbomber vom Typ Tu-22M3 zum Einsatz. Besonders in der Nähe des Hafens und des Stahlwerks Asowstal gebe es Angriffsversuche. Russische Einheiten bereiteten sich zudem "vermutlich" auf eine Marineoperation zur Landung in Mariupol vor.
Ein Ultimatum der russischen Armee an die ukrainischen Kämpfer in der strategisch wichtigen Hafenstadt ist am Sonntag ausgelaufen, die verbliebenen Soldaten kapitulierten nicht. Der Fall Mariupols könnte das Aus für die russisch-ukrainischen Verhandlungen über einen Waffenstillstand bedeuten. Der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj hatte gedroht, die Gespräche zu beenden, sollten die ukrainischen Kämpfer in Mariupol getötet werden.
Russland hatte den in Mariupol verbliebenen ukrainischen Kämpfern eine Frist bis Sonntagmittag gesetzt, um ihre Waffen niederzulegen. Für den Fall der Missachtung des Ultimatums drohte Moskau ihnen mit dem Tod. "Ihre einzige Chance, ihr Leben zu retten, besteht darin, freiwillig die Waffen niederzulegen und sich zu ergeben", erklärte das russische Verteidigungsministerium am Samstag. Nach Verstreichen des Ultimatums am Sonntagmittag befanden sich die ukrainischen Kämpfer offenbar weiter in den Stahlwerken von Mariupol.
"Stadt ist nicht gefallen"
"Nein, die Stadt ist nicht gefallen", betonte der ukrainische Regierungschef Denys Schmyhal am Sonntag gegenüber dem US-Fernsehsender ABC. "Unsere Streitkräfte, unsere Soldaten sind noch immer dort. Sie werden bis zum Ende kämpfen. Während ich zu Ihnen spreche, sind sie noch immer in Mariupol." Die letzten Verteidiger der strategisch wichtigen Hafenstadt "werden bis zum Ende kämpfen", sagte Schmyhal.
Sollte Russland Mariupol einnehmen, wäre es die erste größere Eroberung seit Beginn des Kriegs am 24. Februar. Nach Darstellung Russlands haben seine Truppen die Stadt weitgehend unter Kontrolle. Lediglich eine Gruppe ukrainischer Kämpfer halte sich auf dem Asowstal-Gelände verschanzt, eines der beiden großen Stahlwerke in Mariupol. Das Werksgelände mit zahllosen Gebäuden, Schornsteinen und Bahngleisen ist mehr als elf Quadratkilometer groß. Das russische Verteidigungsministerium erklärte unter Berufung auf Radiomitschnitte, es befänden sich auch 400 ausländische Söldner unter den ukrainischen Soldaten. Diese hätten einen Schießbefehl für alle, die aufgeben wollten.
Mariupol wird seit den ersten Tagen nach dem russischen Einmarschs am 24. Februar belagert. Inzwischen ist die einst über 400.000 Einwohner zählende Stadt im Südosten weitgehend zerstört, die humanitäre Lage ist katastrophal. Mehr als 100.000 Zivilisten in der Stadt sind nach Angaben des Welternährungsprogramms akut von Hunger bedroht.
Die ukrainische Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk appellierte an Russland, Fluchtkorridore für Zivilisten aus Mariupol zu öffnen. Insbesondere für Frauen und Kinder müsse ein "humanitärer Korridor" geschaffen werden, schrieb sie im Messengerdienst Telegram. Geplante Fluchtrouten blieben am Sonntag allerdings geschlossen. Es sei nicht gelungen, mit den russischen "Besatzern" zu einer Einigung über eine Feuerpause für das Gebiet zu kommen, erklärte sie.
"Geiseln" aus Moschee in Mariupol gelassen
Konaschenkow teilte auch mit, dass auf Bitte des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan „Geiseln“ aus einer Moschee in Mariupol „befreit“ worden seien. Bei der „Spezialoperation“ seien am Samstag die von „ukrainischen Nazis“ festgehaltenen Menschen aus der türkischen Moschee in Sicherheit gebracht worden.
Dabei seien 29 Kämpfer, darunter ausländische Söldner, getötet worden. Eine Zahl an „Geiseln“ nannte Russland nicht. Überprüfbar von unabhängiger Seite waren auch diese Angaben zunächst nicht. Die Moschee liegt am Hafen, dort könnten Menschen Sicherheit gesucht haben.
Putins Ziel
Trotz seiner Konzentration auf den Osten der Ukraine bleibt Russlands Kriegsziel nach Einschätzung britischer Geheimdienste unverändert die gesamte Ukraine. Moskau wolle die Ukraine dazu zwingen, ihre euro-atlantische Ausrichtung aufzugeben. Außerdem wolle es seine eigene Dominanz in der Region behaupten, hieß es am Ostersonntag in einer Erklärung des britischen Verteidigungsministeriums unter Berufung auf Geheimdienstinformationen.
Operativ sei Russland weiterhin dabei, seine Truppen und seine Ausstattung aus Belarus in Richtung der Ost-Ukraine zu verlagern - unter anderem an Orte nahe der Stadt Charkiw.
Ukraine schließt vorerst Fluchtkorridore aus Osten
Indes hat das angegriffene Land aber angekündigt vorerst Fluchtkorridore aus dem Osten zu schließen. Es sei nicht gelungen, mit der russischen Armee eine Feuerpause für die Evakuierungsrouten zu vereinbaren, teilte die stellvertretende Regierungschefin Iryna Wereschtschuk am Sonntag auf Telegram mit. „Wir scheuen keine Mühe, damit die humanitären Korridore so schnell wie möglich wieder geöffnet werden können.“
In dem Generalstabsbericht hieß es zudem, eine Teilblockade der Millionenstadt Charkiw im Osten des Landes und der Beschuss von Wohngebieten dort dauere an. Er warnte zudem vor der weiteren Möglichkeit von Raketenangriffen auf die Regionen Tschernihiw im Norden und Sumy im Nordosten. Von dort hatten sich russische Truppen jüngst nach Verlusten und aufgrund eines künftigen russischen Fokus der Kämpfe auf den Osten des Landes zurückgezogen.
"Unmenschliche" Lage
Angesichts der "unmenschlichen" Lage in der umkämpften Hafenstadt Mariupol hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj mehr Unterstützung vom Westen gefordert. Entweder die "Partner liefern der Ukraine sofort alle notwendigen schweren Waffen" oder sie unterstützten ihn bei den Verhandlungen über ein Ende der Belagerung, sagte Selenskyj in der Nacht auf Sonntag. Moskau rief die verbliebenen ukrainischen Kämpfer unterdessen zur Aufgabe auf.
Selenskyj will mit westlichen Kampfflugzeugen den "Druck auf Mariupol verringern und die Belagerung" aufbrechen. Der ukrainische Präsident räumte ein, dass die Suche nach einer "militärischen oder diplomatischen" Lösung der Situation "äußerst schwierig" sei.
Mariupol wird seit den ersten Tagen nach dem russischen Einmarsch am 24. Februar belagert. Inzwischen ist die einst über 400.000 Einwohner zählende Stadt im Südosten weitgehend zerstört, die humanitäre Lage ist katastrophal. Selenskyj sprach kürzlich von "zehntausenden" Toten durch die Belagerung. Am Samstag warf er Russland erneut vor, keine Fluchtkorridore zuzulassen.
Das Verteidigungsministerium in Moskau erklärte, dass die russischen Truppen die Kontrolle über das "gesamte Gebiet der Stadt" hätten. Das Ministerium fügte hinzu, dass die ukrainischen Truppen in einem Industriegebiet eingekesselt worden seien. Es forderte die Kämpfer auf, den Widerstand aufzugeben und das Gelände der Asowstal-Werke bis Sonntag 12.00 Uhr MESZ zu verlassen. "Ihre einzige Chance, ihr Leben zu retten, besteht darin, freiwillig die Waffen niederzulegen und sich zu ergeben", erklärte das Ministerium.
Vorbereitung auf Atomwaffen
Selenskyj sagte ukrainischen Medien, dass die Ukraine sich darauf vorbereiten müsse, dass Russland im weiteren Verlauf des Konflikts Atomwaffen einsetzen könnte. Der ukrainische Präsident hatte bereits am Vortag gesagt, Russland könnte aus Verzweiflung über militärische Rückschläge Atomwaffen oder chemische Waffen einsetzen.
In Mariupol ist die Lage laut Selenskyj weiter äußerst ernst. Er beschuldigte Moskau, bewusst zu versuchen, alle Menschen dort auszulöschen. Selenskyj machte keine Angaben zur Situation der ukrainischen Streitkräfte in der Stadt. Es sei seit Beginn der Blockade kein Tag vergangen, an dem Kiew nicht nach einer Lösung gesucht habe - militärisch oder diplomatisch, "was auch immer, um die Menschen zu retten". Die Lösung zu finden sei allerdings sehr schwierig, es habe bisher noch keine einzige vollständig praktikable Option gegeben.
Unterdessen sind ukrainischen Angaben zufolge rund 1.450 Menschen am Samstag aus umkämpften Gebieten des Landes in Sicherheit gebracht worden. Etwa 1.380 Menschen kamen in der Stadt Saporischschja aus mehreren Städten im Süden und Osten des Landes an, darunter 170 aus der schwer umkämpften Hafenstadt Mariupol, teilte das Büro des Präsidenten am Samstag auf Telegram mit.
Aus drei Städten der Region Luhansk seien "unter andauerndem Beschuss" 68 Menschen geholt worden. Eine Evakuierung aus der Stadt Lyssytschansk in dem Gebiet sei aufgrund "massiven Beschusses" vereitelt worden.
Aus Moskau hieß es am Samstag, "trotz von Kiew verursachter Hindernisse" seien binnen 24 Stunden ohne Beteiligung der ukrainischen Behörden rund 15.800 Menschen aus gefährlichen Regionen der Ukraine und den Gebieten Donezk und Luhansk nach Russland evakuiert worden.
Auch die Gebietshauptstadt Charkiw im Osten der Ukraine steht weiter unter russischem Beschuss. Bei neuerlichen Angriffen auf Charkiw sind nach Angaben der Rettungskräfte mindestens fünf Menschen getötet worden. AFP-Journalisten hörten am Sonntag zwei Angriffswellen und sahen mehrere Feuer, die sich in Wohnvierteln im Zentrum der zweitgrößten Stadt des Landes ausbreiteten und Dächer einstürzen ließen.Ein Vertreter der Rettungskräfte sagte AFP, dass es neben den mindestens fünf Todesopfern auch 13 Verletzte gegeben habe.
Insgesamt hätten die russischen Truppen 23 Mal Teile der Gebietshauptstadt Charkiw und Ortschaften im Gebiet beschossen. Zudem gab es einen Raketenangriff. Synjehubow warnte die Einwohner von Charkiw davor, ohne triftigen Grund ins Freie zu gehen.
Die Regionalhauptstadt Charkiw ist mit rund 1,5 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt der Ukraine und liegt nur rund 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Die Stadt ist bereits seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine heftig umkämpft.
Bisher gelang es den russischen Truppen nicht, sie einzunehmen. Regionalgouverneur Oleh Synjehubow hatte am Donnerstag erklärt, dass in der Region bereits mehr als 500 Zivilisten getötet wurden.In der ostukrainischen Stadt Solote wurden bei russischen Angriffen zwei Menschen getötet und vier weitere verletzt, erklärte der zuständige Regionalgouverneur.
Mindestens 2.000 getötete Zivilisten
Die Vereinten Nationen haben bisher rund 2.000 getötete Zivilisten erfasst, gehen aber wie Kiew von weitaus höheren Opferzahlen unter Zivilisten aus.
Die Ukraine und Russland werfen sich gegenseitig vor, die Flucht von Zivilisten über die täglich neu eingerichteten sogenannten humanitären Korridore zu sabotieren. Moskau hatte zuletzt erklärt, die Kampfhandlungen auf den Osten der Ukraine zu konzentrieren.
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