Mit der Brachial-Attacke versuchte der Präsident abzulenken von der Tatsache, dass die von ihm als Befreiungsschlag gedachte Veröffentlichung einer nachträglichen Mitschrift eines Telefonats mit seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskij nach hinten losging-.
Der US-Präsident sieht sich durch einen Mitarbeiter der US-Geheimdienste des Vorwurfs ausgesetzt, die Ukraine „angestiftet“ zu haben, sich zu seinen Gunsten in die US-Wahlen im November 2020 einzumischen. Später sei der Versuch unternommen worden, die Sache zu vertuschen.
Nach Angabe des anonymen „Whistleblowers“, dessen offizielle Beschwerde am Donnerstagmorgen in Washington veröffentlicht wurde und dem KURIER vorliegt, forderte Trump seinen ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenski am Telefon dazu auf, seinen aussichtsreichsten Rivalen bei der Wahl 2020 – den Demokraten Joe Biden – und dessen Sohn Hunter (49) mit staatsanwaltlichen Ermittlungen zu überziehen. Das sollte ihm bei der eigenen Wiederwahl helfen.
Der genaue Wortlaut des Telefonats am 25. Juli sei in den Tagen danach auf Anweisung von Juristen im Weißen Haus gegen übliche Verfahrensweisen in ein ausgegliedertes Computer-System übertragen worden, das strengeren Zugangskriterien unterliegt.
Grund aus Sicht des „Whistleblowers“: Trumps Angestellten sei die „Bedenklichkeit“ des Gesprächsinhalts bewusst geworden. Außerdem soll Trump den erst im Frühjahr gewählten Selenski dazu angehalten haben, dabei mitzuhelfen, die von FBI-Sonderermittler Robert Mueller eindeutig Russland zugeschriebenen Einflussversuche auf die US-Wahlen 2016 neu zu verorten: und zwar in die Ukraine.
Konkret sollte Selenski Computer-Server sicherstellen und aushändigen, die seinerzeit von der Zentrale der US-Demokraten benutzt wurden.
US-Ermittler gehen davon aus, dass russische Hacker die Netzwerke gehackt haben und so damals kompromittierende Informationen gegen Trumps Widersacherin Hillary Clinton und die Demokraten öffentlich wurden. Trump wollte offenbar die Spur von Moskau, und damit von Staatspräsident Wladimir Putin weglenken.
Bei alledem gab Trump nach Angaben des „Whistleblowers“, der in Trumps Gebaren „Amtsmissbrauch“ und „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ erkennt, seinen Privat-Anwalt Rudy Giuliani und US-Justizminister William Barr als seine „persönlichen Bevollmächtigten“ in der Angelegenheit aus. Giuliani traf sich mehrfach mit ukrainischen Regierungsverantwortlichen und Top-Juristen, unter anderem in Madrid, um die Wünsche Trumps voranzutreiben.
Mit der Veröffentlichung der Beschwerde, die gestern in Washington hohe Wellen schlug, stehen hinter dem am Vortag vom Weißen Haus nachträglich rekonstruierten Verlauf des Trump-Selenski-Telefonats große Fragezeichen. Trump erklärte sich danach von allen Vorwürfen entlastet und nannte die wachsenden Bemühungen der Opposition, gegen ihn ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten, die „größte Hexenjagd in der Geschichte Amerikas“.
Der Präsident bezog sich vor allem auf die vorher kolportierte Anschuldigung, er habe explizit Druck auf den jungen ukrainischen Regierungschef ausgeübt. Tenor: Falls Kiew nicht juristische Ermittlungen gegen Joe Biden und dessen Sohn Hunter einleitet, würden die USA finanzielle Militärhilfe an die Ukraine zurückhalten.
In der vom Weißen Haus veröffentlichen Gesprächsnotiz war von diesem Gibst-Du-mir-geb-ich-Dir erwartungsgemäß keine Rede. Trump bestritt am Rande der UN-Vollversammlung in New York erneut, diese Verknüpfung vorgenommen zu haben.
Selenski sekundierte und sagte: „Es gab keinen Druck.“ Der frühere TV-Komödiant fügte sichtlich unangenehm berührt vor Reportern hinzu: „Ich möchte nicht in die US-Wahlen hineingezogen werden.“
Die Demokraten, bei denen mittlerweile rund 220 Abgeordnete ein „Impeachment“ Trumps wegen Verfassungsbruchs befürworten, hatten die Vollständigkeit der Mitschrift des Telefonats mit Selenski, die kein Wortlaut-Protokoll ist, angezweifelt. Sie sahen sich nachder Veröffentlichung der Beschwerde des Geheimdienstlers, der sich auf Dutzende Mitarbeiter des Weißen Hauses beruft, bestätigt.
Experten in Washingtoner Denkfabriken erkennen in Trumps Vorgehen eine Kopie seines 2016er-Wahlkampfes gegen die Demokratin Hillary Clinton. Auch hier versuchte Trump die Reputation der Konkurrentin zu beschädigen und sie als zwielichtige Figur zu porträtieren, die sich zum eigenen Vorteil übers Recht stelle, nach außen aber die Hüterin der Verfassung mime.
„Dieses Drehbuch wird jetzt wiederbelebt“, schreibt Margaret Talev vom Nachrichtenportal Axios.
Kommentare