Wieso niemand versucht hat, Putin aufzuhalten

Im Kreise der Mächtigen: Sarkozy, Putin, Merkel, Bush, Blair (v.l.n.r.)
Im Jänner 2007, sagt Angela Merkel auf der Bühne, da sei ihr klar gewesen: Wladimir Putin hege einen "Hass auf den Westen", das wisse sie seit einem Treffen in Sotschi. Er wolle "Europa zerstören" – schon damals, sagt sie.
Merkels erster Auftritt nach einem halben Jahr Stille lässt eine große Frage übrig: Warum hat Merkel, hat der Westen damals nicht anders reagiert? War man auf dem russischen Auge blind?
Das war man offenbar. Und nicht erst seit 2007, sagt Wolfgang Mueller vom Wiener Institut für Osteuropäische Geschichte: Schon seit der zweiten Amtszeit Putins – also ab 2004 – war dessen "kritische Sicht auf den Westen offensichtlich". Bei der Aufnahme neuer NATO-Mitglieder und der Raketenabwehr habe es heftige Differenzen mit Moskau gegeben – allerdings laut Mueller lösbare, was über Partnership for Peace, NATO-Russland-Akte und NATO-Russland-Rat auch versucht wurde.
Der Westen wurde als Sündenbock für die "Farbrevolutionen" in der Nachbarschaft Russlands dargestellt. Die NATO wurde innenpolitisch als Feindbild inszeniert, obwohl sie damals noch mit Moskau kooperierte. Die Haltung Russlands zur Orangen Revolution in der Ukraine 2004, die Vergiftung des Präsidentenanwärters Juschtschenko, die Rede Putins in München 2007, der Georgienkrieg 2008: Für den Westen seien diese Ereignisse keine nachhaltigen Warnungen, nur "Eintagsfliegen" gewesen.
Der ewige Frieden
Die Gründe sind laut Mueller vielschichtig. Zum einen habe im Westen seit dem Ende des Kalten Krieges die Meinung vorgeherrscht, in Europa sei "der ewige Frieden ausgebrochen". "Der Modus war auf Entspannungspolitik ausgerichtet" – ganz in der Tradition Brandts und Schmidts.
Deren Paradigma "Wandel durch Handel" setzten Schröder und Merkel fort. Geldflüsse sollten Russland enger an Westeuropa – und da vor allem Deutschland – binden. "Nord Stream 2 etwa wurde mit dem mantraartig wiederholten absurden Argument gebaut, dass es sich um ein privatwirtschaftliches Projekt handle", sagt Mueller. Gleichzeitig kamen Rufe nach einer Aufweichung der Sanktionen aus Wirtschaftskreisen und von Lobbyisten. "Diesen Lobbyismus zu ihren Gunsten hatte die Ukraine nicht."
Gefruchtet hat dies nicht, wie Europa spätestens seit der Ukraine-Eskalation vor acht Jahren weiß. "Nach 2014 ist Europa schnell wieder in den Kuschelmodus verfallen. Das war sicher auch Bequemlichkeit", sagt Mueller. Auch Merkel habe "keine klaren Signale ausgesandt", um Putins Aggression zu bremsen. Das Sanktionsregime nach der Krim-Annexion sei „nur symbolisch gewesen“, sagt er.
Auch Warnungen aus Warschau oder Prag wurden in Westeuropa gern überhört. "Was im Osten passiert, hat den Westen lange Zeit ein bisschen überfordert." Die Ostmitteleuropäer seien kritisiert worden, sie sollten ihre Russophobie ablegen und nicht die Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Russland stören. Wenn zwischen diesen beiden Ländern alles passe, sei alles in Ordnung, hieß es. "Das ist nicht immer korrekt: Auch 1939 hat zwischen Berlin und Moskau alles gepasst. Was folgte, war der Zweite Weltkrieg", sagt Mueller.
Die Schuldfrage
Die deutsche und österreichische Zögerlichkeit habe ihre Gründe in dieser Zeit, sagt er – die bis heute wirkende Dankbarkeit für die Befreiung vom Nationalsozialismus. In puncto Ukraine sei diese historische Schuld jedoch besonders "verhängnisvoll": Die Ukraine hatte im Zweiten Weltkrieg nämlich noch einen prozentuell höheren Blutzoll als Russland zu zahlen.
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