Im Widerstand in der besetzten Ukraine: "Für die Russen sind wir Terroristen“
10.000 Menschen gehören zu „Yellow Ribbon“, einer der größten zivilen Widerstandsgruppen in der besetzten Ukraine. Iwan ist ihr Chef – ein Gespräch über ständige Angst, Anonymität und Schmiergeld.
Wie er wirklich heißt, wissen nur seine engsten Freunde. „Nenn Sie mich Ivan“, sagt der 23-Jährige, er sitzt mit einem schwarzen Tuch vor dem Gesicht vor der Kamera. Dass er dabei lächelt, erkennt man nur an seinen Augen. Der IT-Spezialist ist Chef von „Yellow Ribbon“, einer der größten zivilen und gewaltlosen Widerstandsgruppen der Ukraine. Er lebt in Melitopol unter Okkupation, wohin er freiwillig gegangen ist, um die Russen zu sabotieren. Verschlüsselt über mehrere VPN-Verbindungen spricht Ivan über ein Leben in der Dunkelheit – und das, was ihn und seine Mitstreiter antreibt.
KURIER: Wie kamen Sie auf die Idee zu „Yellow Ribbon“?
Ivan: Vor dem Krieg war ich IT-Spezialist, habe Websites, Chatbots und Telegram-Chats erstellt. Ich komme aus Cherson, wo ich mit einem Kollegen – er ist strategischer Koordinator unserer Bewegung – ein Start-up gegründet hatte. Während der Besatzung war die Stadt voll mit russischer Propaganda. Wir wollten dem etwas entgegen setzen, etwas, das alle mit der Ukraine verbinden würden. Wir wollten die Leute überzeugen, sich keine russischen Pässe zu nehmen. Deshalb haben wir uns die gelben Bänder ausgedacht, denn sie leuchten und haben eine Farbe unserer Flagge. Davon verteilten Hunderte in der Stadt, danach wollten sich uns Unzählige anschließen. Später organisierten wir unseren ersten großen Protest auf dem Hauptplatz, der größte seit Beginn der Besatzung.
Wie arbeiten Sie?
Nach den Bändern hängten wir gelbe Plakate mit Slogans wie „Cherson ist Ukraine“ auf, später sprühten wir Graffitis, das ist einfacher. Zudem gibt es Online-Protest, an dem sich Zehntausende beteiligen – bei der Aktion „United Heart of Ukraine“ fotografieren Menschen in den besetzten Gebieten eine Hälfte eines Herzens in gelb, die Menschen in den von der Regierung kontrollierten Gebieten posten die andere Hälfte in blau. Wir übermalen auch russische Symbole wie das Z, verwandeln es in eine Sanduhr. Das heißt: Die Zeit der Besatzung läuft ab.
Seit den ersten Protesten hat Ihre Bewegung Tausende Mitglieder gewonnen - wo überall?
Mittlerweile haben wir 10.000 aktive Nutzer auf Telegram. Sie teilen Infos, Fotos und Videos über Kriegsverbrechen, Truppenbewegungen, Kollaborateure. Wenn ich aufwache, sehe ich Hunderte neuer Posts. Das ermutigt mich. Wir haben auch Aktivisten in Donezk, Luhansk, auf der Krim. Es gibt das russische Narrativ, dass dort alle pro-russisch seien. Wir zeigen das Gegenteil: Es gibt Tausende, die die Ukraine unterstützen und auf ihre Befreiung warten.
Sie sind nicht mehr im befreiten Cherson, sondern im besetzen Melitopol. Wieso?
Als Cherson nach sechs Monaten befreit wurde, hatte ich immer noch Angst vor FSB-Agenten, Patrouillen und Kontrollen. Man hat das Gefühl, dass man niemandem trauen kann – wenn man in einer Widerstandsbewegung ist, ist das gefährlich – und es kann lebensgefährlich sein. Nachdem wir den Sacharow-Preis (Anm.: Friedenspreis des EU-Parlaments) erhalten hatten, wollte ich es dennoch noch einmal versuchen – ich ging zurück in die besetzten Gebiete. Meine Freunde blieben in Cherson. Ich versuche hier, unser Netzwerk zu vergrößern.
Wie finden Sie Mitglieder, ohne entdeckt zu werden?
Wir sind anonym, nutzen verschlüsselte Messenger, Telegram und einen eigens programmierten Chatbot. Wir haben keine Informationen über unsere Nutzer, nutzen viele verschiedene Server, damit wir auch weitermachen können, wenn die Russen uns mit Bots und Spam angreifen. Wir bringen unseren Mitgliedern auch Cyberverteidigung bei.
Und wie können Sie sicher sein, dass keine Russen Ihre Bewegung unterwandern?
Zu Beginn erhielten wir eine Menge Nachrichten von Russen. Sie sagten, sie seien „große Fans“ und wollten uns persönlich treffen. Das fühlte sich immer wie eine Bedrohung an. Jetzt schicken sie manchmal russische Flaggen oder Bilder von gefallenen ukrainischen Soldaten, um uns zu demoralisieren, manchmal gibt es wir Spam-Angriffe.
Sie treffen die anderen Teilnehmer nie?
Nein. Wir bleiben die ganze Zeit über anonym.
Ihre Aktionen sind in den besetzten Gebieten illegal. Was passiert, wenn einer von Ihnen erwischt wird?
Natürlich werden wir auch ertappt. Kürzlich wurde eine Kollegin verhaftet, Videokameras hatten gefilmt, wie sie „Ruhm der Ukraine“ auf ein besetztes Gebäude in Sewastopol malte. Sie wurde von FSB-Agenten befragt, die ihr sagten, unsere Bewegung sei eine Terrororganisation – für die Russen sind wir Terroristen. Dennoch konnten wir sie in die Ukraine schleusen. Wenn wir erfahren, dass jemand verhaftet wurde, versuchen wir auf dem allersichersten Weg herauszufinden, was passiert ist, um das Leben der Person nicht zu gefährden und unsere Anonymität nicht zu riskieren. Was wissen, dass das, was wir tun, mitunter lebensgefährlich ist.
Wurden Sie jemals bedroht?
Ich lebe immer noch sehr anonym. Ich habe mehrere Handys, die ich für Gespräche mit anderen Aktivisten, mit den Medien oder für Privates nutze. Nach unseren Protesten im Mai 2002 wurde ich einmal verhaftet, aber ich wurde nur befragt. Ich wurde nicht verprügelt oder gefoltert. Sie fragten nur, warum ich protestiere – und drohten mir mit Folter, wenn ich die Stadt nicht verlasse.
Haben Sie keine Angst?
Wenn sie uns erwischen, können sie nicht viel tun. Wenn sie mich etwa beschuldigen würden, Hauptkoordinator der Bewegung zu sein, wissen sie nicht, hätten sie keine Beweise: Meine Kreditkarte habe ich in den letzten zwei Jahren nicht benutzt. Wenn sie mich auf der Straße beim Sprayen gesehen hätten, würden sie mich wohl ein paar Tage inhaftieren und foltern. Was danach kommt, ist Glückssache und hängt davon ab, mit wem man es zu tun hat. Manche entlassen einen gegen Geld, andere nicht.
Wie kann man sich das Leben in den besetzten Gebieten vorstellen?
In Melitopol und allen anderen besetzten Städten ist alles voller pro-sowjetischer und pro-russischer Propaganda. Überall hängen Werbetafeln, Plakate, Poster, die die Leute dazu bringen sollen, russische Pässe oder russische Kredite anzunehmen. Auf die Straße kann man problemlos gehen, aber es gibt eine Menge Checkpoints und Patrouillen, geführt meist von Tschetschenen. In den Geschäften sind fast alle Produkte aus Russland oder dem Iran. In Russland etwa gibt es kein Coca-Cola, hier haben wir iranisches Coca-Cola. Dazu gibt es ein großes Problem mit Medikamenten. Ist man auf etwas allergisch ist oder braucht Insulin, muss man Monate warten und viel Geld bezahlen. Aber es gibt keine Jobs, um so viel Geld zu verdienen – auf den Märkten verkaufen die Menschen nur Produkte, die sie auf ihrem eigenen Land anbauen. Seit der Explosion des Kachowka-Damms gibt es auch ein Problem mit Trinkwasser. Die Russen haben ihr eigenes, abgefülltes Wasser. Wir Zivilisten müssen nach frischem Wasser suchen. Zudem braucht man für alles einen russischen Pass: Schüler und Studenten ohne Pass erhielten am Ende des Schuljahres kein Diplom. Selbst in Donezk und Luhansk reicht es nicht aus, den Pass der Volksrepubliken zu haben, man braucht auch einen russischen. Auch, um eine Busreise zu machen, braucht man einen. In den neun Jahren der Besatzung haben das viele Leute das boykottiert. Russland hat sich nicht darum gekümmert, was die Menschen brauchen, obwohl das Völkerrecht dies eigentlich vorschreibt.
Im Grunde hat Russland in den besetzten Gebieten das aufgebaut, was wir Russkij Mir (Russische Welt) nennen. Das heißt – Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen, Entführungen, Folter, schlechte Lebensbedingungen, Korruption und ähnliches, alles unter dem Vorwand, die Russen in der Ukraine oder die russischsprachigen Ukrainer zu retten oder zu schützen. Für die Russen ist die Durchsetzung der Russkij Mir in den Nachbarländern Moldawien, Georgien, Ukraine, Belarus oder weit entfernt von Russland (Syrien, Afrika) die Befriedigung eines Rachegefühls nach dem Zusammenbruch der UdSSR – und eine weitere Gelegenheit, ihre Macht gegenüber dem Westen zu demonstrieren. Nach der Russkij-Mir-Ideologie, die offiziell von der russischen Regierung und leider auch von der Mehrheit der Russen unterstützt wird, muss Russland in den Grenzen der UdSSR wiederhergestellt werden. Aus diesem Grund haben Friedensverhandlungen und Waffenstillstände nie geholfen. Russland betrachtet die Ukraine und andere postsowjetische Länder einfach nicht als unabhängige Staaten. Deshalb kämpfen wir so verzweifelt.
Wächst die Resignation?
Wie sich die Menschen hier fühlen, hängt von der Situation ab. Wenn es Explosionen gibt und wir sehen, dass die Russen in Panik geraten, ermutigt das die Leute, die Ukraine zu unterstützen. Viele Lehrer in den Schulen versuchen etwa, das russische Bildungssystem zu sabotieren, sie unterrichten einfach nicht nach dem russischen System. Außerdem geben viele Leute Informationen über die Besatzer an die Ukrainischen Streitkräfte weiter, viele Angriffe gehen darauf zurück. Auf der anderen Seite haben viele Ukrainer die besetzten Gebieten verlassen, Kollaborateure und prorussische Leute sind geblieben. Auf der Straße sieht man daher nicht allzu viele Leute.
Arbeiten Sie auch mit anderen Sabotagegruppen wie Atesch zusammen, die im Unterschied zu Ihnen Gewalt anwenden?
Nein, aber ich kenne Leute aus diesen Gruppen. Alle diese Partisanengruppen, insbesondere Atesch, wollen die Russen demoralisieren, demotivieren und ihnen Angst machen. Die Russen haben wirklich Angst vor ihnen. Nach einem Angriff dieser Guerilla stürmen sie oft Wohnungen, um die Mitglieder zu suchen. Das ist alles Psychologie: Die Russen wollen, dass wir uns beobachtet fühlen, aber wir haben auch Fotos von den Patrouillen – und sie fühlen sich dadurch beobachtet.
In Ihrer Bewegung gibt es mehr Frauen als Männer – warum?
Etwa 70 Prozent sind Frauen. Vielleicht, weil Männer andere Wege des Widerstands wählen und von den Russen auch stärker beobachtet werden. Frauen machen einen großen Teil unserer Arbeit, sie sind genauso mutig wie Männer. In Melitopol etwa gibt es eine Widerstandsbewegung namens Zla Mavka, sie besteht nur aus Frauen. Sie machen auch Plakate, beobachten die Russen, alles gewaltfrei – das kann die russischen Soldaten demoralisieren, weil ihre Gesellschaft sehr patriarchalisch ist und sie nicht mit Widerstand durch Frauen rechnen.
Gibt es in den besetzten Gebieten eine normale Mobilfunkverbindung oder ist sie eingeschränkt?
Wir wissen, dass die Russen einige Telefone abhören. Es gibt ukrainische Provider, aber deren Signal ist nicht immer gut oder verfügbar. Wir könnten russische SIM-Karten verwenden, aber dann wäre es noch einfacher, uns abzuhören. Sie benutzen wir nur an den Kontrollpunkten – ist der Provider russisch, kann man passieren. Keinen Empfang gibt es nur, wenn die Russen ihre Truppen bewegen oder ihr Hauptquartier verlegen, dann blockieren sie alles.
Wie kommunizieren wir eigentlich?
Wir verwenden viele verschiedene verschlüsselte Messaging-Apps, damit wir Alternativen haben und auf der sicheren Seite sind.
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