"Wir werden auch das überleben"
Wanda ist gut mit den Händen. Sie steht im Wohnzimmer ihres Hauses und zeigt die Wand mit dem Fenster, die eines Tages nicht mehr war. Das war irgendwann zwischen dem 22. und dem 25. Juli des Vorjahres. Da hatte eine Mörsergranate im Garten vor dem Fenster eingeschlagen – und eine zweite in der Sommerküche auf der anderen Seite des Hauses. Die Wand steht wieder. Die junge Frau hat sie selbst geflickt und auch selbst das Fenster eingesetzt. Sie hat die Splittereinschläge in der Wohnzimmerdecke feinsäuberlich ausgebessert. Sie hat beschlossen, zu bleiben. Die Nachbarn haben sich nach den Kämpfen in Richtung Russland verabschiedet – so wie viele hier.
Wanda lebt in Lisichansk, einer kleinen Stadt im ostukrainischen Großraum Sewerodonezk. Hier hat die Verwaltung der Region Lugansk ihr neues Hauptquartier aufgeschlagen, nachdem die eigentliche Hauptstadt Lugansk jetzt im Einflussbereich der prorussischen Separatisten liegt. Der Krieg hatte hier vergangenen Sommer getobt, jetzt liegt die Front 20 Kilometer weiter südlich. Damals hatten sich pro-russische Milizen hinter der Siedlung am Rande Lisichansks verschanzt. Die ukrainische Armee hat sie beschossen und dabei auch ihr Haus getroffen – so wie 30 andere in der Siedlung. Viele Menschen starben.
Zweckoptimismus
Der Bürgermeister von Lisichansk, Michael Wlasow, sagt, seine Gemeinde sei schon vor dem Krieg überaltert gewesen. Heute hat sich die Lage um ein Vielfaches verschärft. Nur mehr 60 Prozent der einstigen Polizeikräfte sind noch im Dienst. Und diese Lücke würden oft Kräfte füllen, die, wie er es ausdrückt, "zuweilen ihre eigene Agenda verfolgten". Er spricht dabei vor allem auf die Freiwilligenbataillone an, die alles andere als beliebt sind in der Region. So, wie auch die Polizeieinheiten aus anderen Teilen des Landes, die den lokalen Kräften zur Seite stehen – oder ihnen auf die Finger schauen. Je nach Sichtweise. Es dominiert Letzteres. An die Regierung in Kiew appelliert der Bürgermeister, nicht nur auf die Armee zu schauen, sondern auch die Sozialbudgets im Auge zu haben. "Wir haben die 90er-Jahre überlebt, wir werden auch das überleben", übt er sich in Zweckoptimismus.
Wanda ist Alleinerzieherin und arbeitet für die Stadtverwaltung. Nur mithilfe eines Gutschein-Programms (jeweils im Wert von 220 Euro gingen an 250 Personen) für Baumärkte des österreichischen Roten Kreuzes konnte sie sich die Baumaterialien leisten, um ihr Haus für sich und ihre zwei Kinder winterfest zu machen – Geld vom Staat hat sie nie erhalten. Zugleich werden vom Roten Kreuz über die lokale Partnerorganisation und in Abstimmung mit anderen Organisationen vor Ort in regelmäßigen Abständen Essenspakete, Brot und Kleidung an etwa 300 Haushalte verteilt. Güter, die dringend benötigt werden.
Was derzeit vor allem wegen bürokratischer Hürden kaum möglich ist, ist Hilfsgüter in Gebiete zu bringen, in denen die Regierung in Kiew keinen Einfluss mehr hat. Es gilt praktisch ein Embargo. Ebenso kompliziert verhält es sich mit dem Personenverkehr über die Frontlinie hinweg – entlang der Front wurde praktisch eine Grenze hochgezogen, für deren Überquerung man Spezialgenehmigungen braucht. Nur langsam und über komplizierte Umwege passt sich die Bürokratie der Krise an.
Daran, dass sie der Krieg in Lisichansk wieder einholen könnten, will Wanda nicht einmal denken. Alleine schon vor dem Gedanken habe sie Angst, sagt sie – und lacht ein sehr kurzes Lachen, senkt den Blick. Schweigen. Sie erzählt von Isolierstoffen, wie sie das Fenster eingesetzt hat, zeigt den Krater hinter dem Haus, das ihr Vater gebaut hat. Und sie sagt: "Es zu verlassen, wäre hart."
Plötzlich, über Nacht, waren sie da: Genau vor einem Jahr, als die Welt noch gebannt auf die Unruhen und den Umsturz in Kiew blickte, tauchen die „grünen Männchen“ zum ersten Mal auf der Halbinsel Krim auf. Die schwer bewaffneten, in grünes Flecktarn gewandeten Männer besetzen das Regionalparlament sowie das Regierungsgebäude der Krim-Hauptstadt Simferopol. Auf ihren Uniformen gibt es keine Hoheitsabzeichen, auf ihren Militärfahrzeugen keine Nummernschilder.
Am nächsten Tag sind auch alle Flughäfen und Zufahrtstraßen besetzt. 2000 nicht-ukrainische Soldaten haben am 28. Februar 2014 auf der Krim alles unter Kontrolle – eine Tatsache, die man im fernen Kiew bereits als „militärische Intervention“ sieht. Russlands Präsident Putin aber behauptet kühl, mit all den Vorgängen auf der Krim nichts zu tun zu haben.
Dann geht alles Schlag auf Schlag – und offenbar, wie es vor Kurzem in einer Moskauer Zeitung veröffentlichte Dokumente belegen, genau nach exakt vorgegebenem Plan. Mitte März wird ein Referendum für den Anschluss der Krim an Russland abgehalten: 97 Prozent der Teilnehmenden stimmen dafür. Bereits am nächsten Tag stellt die Republik Krim einen Beitrittsantrag an die Russische Föderation. Und schon am 18. März wird der Vertrag über den Beitritt der Krim in den russischen Staatsverband unterzeichnet.
Seither weht auf allen Amtsgebäuden der Halbinsel die russische Fahne, an die Bewohner werden russische Pässe ausgegeben. Tausende Ukrainer haben die Krim verlassen.
Mindestens eine Million Menschen sind innerhalb der Ukraine auf der Flucht, geschätzte 500.000 außerhalb der Ukraine. Rund fünf Millionen Menschen leben im Krisengebiet, von denen 3,2 Millionen als hilfsbedürftig eingestuft werden.
Max Santner ist der Zuständige des Österreichischen Roten Kreuzes für internationale Kooperation. Er fordert gegenüber dem KURIER Zugang für das Rote Kreuz zu allen Menschen im Konfliktgebiet – vor allem auch ins Gebiet, das sich nicht mehr unter der Kontrolle Kiews befindet. Das Rote Kreuz, so sagt er, fordere die Einhaltung des humanitären Völkerrechts.
In den kriegerischen Handlungen im Osten der Ukraine, der Flüchtlingskrise in der Region und dem drohenden wirtschaftlichen Kollaps des gesamten Landes sieht Santner „eine riesige Herausforderung“ in den kommenden Jahren. Die Strukturen des Roten Kreuzes, so sagt er, seien dabei ein „Kitt der Menschlichkeit“ innerhalb der Gesellschaft, die es zu unterstützen gelte.
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