Kämpfe um Rebellen-Hochburg

Nichts wie weg – ukrainische Soldaten helfen Zivilisten nahe Lugansk bei der Flucht aus dem Kampfgebiet
Schwere Gefechte in Lugansk / Russland droht Kiew mit "irreversiblen Konsequenzen".

Wer konnte, ist längst weg, die, die geblieben sind, sitzen auf gepackten Koffern. In Donezk verbarrikadieren sich die Separatisten, während das öffentliche Leben stetig in sich zusammenfällt. In den westlichen Außenbezirken, nahe des Flughafens, toben Kämpfe. Weiter östlich, in der Gebietshauptstadt Lugansk ebenso – nur dort hat sich die Armee anscheinend bereits zum Frontalangriff entschlossen.

Laut Angaben der Separatisten in der Region rückten die ukrainischen Einheiten mit 50 Panzern und gepanzerten Fahrzeugen in die Stadt mit ihren 450.000 Einwohnern vor. Von schweren Kämpfen innerhalb der Stadtgrenzen mit zum Teil auch schweren Waffen war die Rede. Ebenso von Luftangriffen. In dem Gebiet schossen die Rebellen am Montag erneut ein Transportflugzeug der ukrainischen Luftwaffe ab.

Propaganda-Krieg

Ganz unterschiedlich fallen die Bewertungen der Lage dabei aus: Laut einem Sprecher der ukrainischen Kräfte sei die Belagerung des nach wie vor von ukrainischen Einheiten gehaltenen Flughafens von Lugansk vorüber – mitnichten, hieß es dagegen seitens der Rebellen. Und während die ukrainischen Stellen von schwerwiegenden Verlusten aufseiten der Rebellen berichteten, wiesen dies die pro-russischen Kräfte vehement zurück.

Klar ist: Der Osten der Ukraine erlebt dieser Tage die schwersten und vor allem flächendeckende Kämpfe seit Beginn der Krise. Und je weiter die ukrainischen Einheiten vorrücken, desto näher die Kämpfe auch an die Grenze zu Russland heranreichen, desto brenzliger wird die Lage. Von einem 100 gepanzerte Fahrzeuge umfassenden Konvoi wurde am Montag berichtet, der von Russland aus in die Ukraine vorgestoßen und aus der Luft und mit Artillerie angegriffen worden sei.

In ukrainischen Medien machten Berichte die Runde, hinter der Grenze würden sich Kommandos des russischen Militärgeheimdienstes GRU für einen unmittelbar bevorstehenden Einsatz in der Ukraine sammeln.

Seitens der Führung in Moskau wird der Ton gegenüber Kiew jedenfalls erneut extrem scharf – nachdem eine russische Grenzstadt von einer Granate getroffen und dort ein russischer Staatsbürger getötet worden war. Wer geschossen hat, ist dabei nicht restlos geklärt, aber aus Sicht Russlands handelt es sich um einen "agressiven Akt", der nicht ohne Folgen bleiben werde, wie es das Außenministerium in einer Aussendung formulierte. Angedroht werden "irreversible Konsequenzen". Laut einem Bericht der Zeitung Kommersant, der sich auf einen Insider im Präsidialamt beruft, ist von möglichen "zielgerichteten Schlägen" die Rede.

Kiew nannte die Vorwürfe, ukrainische Einheiten hätten russisches Gebiet beschossen, "totalen Nonsens". Von einem gezielten Verzweiflungsakt der Rebellen ist die Rede, um die ukrainische Armee in Misskredit zu bringen. Präsident Petro Poroschenko hatte bereits zuvor Russlands Armee beschuldigt, schon mehrmals die Grenze verletzt zu haben. Am Montag hieß es in einer seiner Stellungnahmen, russische Offiziere würden an der Seite der Rebellen im Osten der Ukraine kämpfen. In einer Erklärung des Parlaments in Kiew hieß es am Montag zudem, man wolle ausländischen Diplomaten in Kürze Belege für eine russische Beteiligung an dem Aufstand in der Ostukraine vorlegen. In Verbindung gebracht wurde das nicht zuletzt mit dem Abschuss des Flugzeuges in Lugansk am Montag, wobei ein neuwertiges russisches Luftabwehrsystem eingesetzt worden sei.

In Kiew hofft man anscheinend auf eine rasche, harte Lösung der Krise. Mit jedem Tag aber, den die Militäraktion andauert, wird der Osten zu einer Geisterzone. Laut russischen Angaben haben 30.000 Ukrainer um russisches Asyl angesucht. Wie viele innerhalb der Ukraine auf der Flucht sind, ist kaum zu schätzen. Viele kommen bei Verwandten in anderen Landesteilen unter.

Sommer im belagerten Donezk – Tausende haben die Stadt verlassen

Sergej Nikitin ist Leiter des Büros von Amnesty International in Moskau. Vor den Olympischen Spielen in Sotschi äußerte er Befürchtungen, dass Russlands Behörden nach den Spielen wieder verstärkt gegen Menschenrechtsorganisationen und Andersdenkende vorgehen werden. Eine Befürchtung, die sich seiner Ansicht nach bestätigt hat. Der KURIER sprach mit Nikitin über ...

... das Gesetz, wonach Nicht-Regierungs-Organisationen, die aus dem Ausland Geld erhalten, sich als "Ausländische Agenten" registrieren müssen Das Gesetz fängt gerade erst an, sich voll auszuwirken. Wir haben es bei einer Reihe von Organisationen gesehen, die sich gegen die Registrierung als "Ausländischer Agent" vor Gericht gewehrt haben – alle haben verloren. Ich gehe davon aus, dass in naher Zukunft schon sehr viele Organisationen in dieses Register aufgenommen werden. Das bedeutet, dass jede Publikation, jedes geschriebene Wort von den Behörden genehmigt werden muss. Es ist ein Klima der Null-Toleranz gegenüber NGOs geschaffen worden. Man muss sich vor Augen führen: Organisationen drohen hohe Geldstrafen, den Leitern von Organisationen ebenso – plus Gefängnisstrafen. Die Behörden versuchen zugleich Organisationen dazu zu bringen, russische Geldgeber zu finden – und da kommen praktisch nur Regierungsstellen infrage. Nur, dann kann man kaum mehr von Nicht-Regierungs-Organisationen sprechen.

... den Einfluss der Ukraine-Krise auf diese Lage Es herrscht generell Angst. Die Behörden beobachten sehr genau, was in Nordafrika oder auch der Ukraine geschehen ist. Und sie kommen zum Schluss, dass diese Geschehnisse von "bösen Kräften" finanziert wurden. Putin ist überzeugt, dass diese Proteste von ausländischen Staaten finanziert wurden. Und seine Administration betrachtet NGOs als Geldkanäle. Die Folge: Fundamentale Rechte wie Meinungsfreiheit, freie Medien, Versammlungsfreiheit werden als Bedrohung betrachtet. Und er ist überzeugt: Sollte es Veränderungen in Russland geben, könnten sie nur von der CIA finanziert sein. Die Ironie an der Sache: Die Russisch-Orthodoxe Kirche als einer der größten Empfänger ausländischer Gelder ist von der Regelung ausgenommen.

... die Sicht der Ukraine-Krise in russischen Medien Die Ukraine-Geschichte wird in den russischen Medien und von der russischen Propaganda sozusagen zerlegt und neu zusammengebaut. Begonnen hat alles als ziviler Protest, und heute haben wir eine Art Krieg.

... den Einfluss neonazistischer, faschistischer und groß-russischer Gruppen auf die Politik und vor allem auch in der Ukraine-Krise aufseiten der Separatisten Es ist nicht klar, ob diese Gruppen tatsächlich durch staatliche Stellen gesteuert werden, oder ob diese Gruppen außer Kontrolle des Staates agieren und der russische Staat nur versucht, über sie Einfluss zu erlangen. Klar ist: Der rechte Rand wird stärker und das vor allem mithilfe der Russisch-Orthodoxen Kirche. Ein schockierendes Ereignis waren die rassistisch motivierten Unruhen in Moskau vergangenen Sommer. Da haben Behörden und Polizei dramatisch Schwäche gezeigt. Die Polizei hat es nicht gewagt, offen einzuschreiten.

... Russlands zunehmende Abschottung nach außen Die Situation in der Ukraine dient den Behörden nur als eine weitere Rechtfertigung: Es wird ein Bild von Russland als von Feinden umgebene Festung kreiert. Wir sind heute so weit, dass sowohl Exekutiv- als auch Justizbeamte ohne Sondergenehmigung nicht ins Ausland reisen dürfen. Oder die Diskussion über die Todesstrafe. Oder Rechte für sexuelle Minderheiten. Argumentiert wird immer: Das sind nicht wir, das ist nicht unsere Natur.

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