Armee will Donezk zurückerobern

Die Kämpfe – und Opferzahlen – im Osten der Ukraine nehmen wieder zu: Ukrainischer Panzer nahe der Stadt Donezk
Regierungstruppen rücken in großer Offensive vor. Mindestens 30 Tote bei Raketenbeschuss.

Die vom ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko geführte "Anti-Terror-Operation" gegen die im Osten des Landes kämpfenden Separatisten fordert weitere Opfer und nimmt deutlich an Härte zu. Bei einem Raketenangriff der Aufständischen seien bei Selenopole im Gebiet Lugansk laut Kiews Innenministerium mindestens 30 Soldaten umgekommen. Weitere Sicherheitskräfte starben im Granatwerferbeschuss.

Eingekesselt

Seit mehreren Tagen gehen die Regierungstruppen mit einer starken Offensive gegen die Separatisten vor. Es wird von schwerem Artilleriefeuer sowie vorrückenden Militärkonvois mit Panzern und Truppentransportern berichtet. Nachdem vergangene Woche bereits Rebellenhochburgen wie Slawjansk von den Regierungssoldaten erfolgreich erobert wurden, folgte eine Einkesselung der ebenfalls von Separatisten besetzten Städte Donezk und Lugansk.

Armee will Donezk zurückerobern
"Die Einkesselung soll eine Alternative zur sonst brutalen Vorgehensweise darstellen. Zusätzlich will man Zeit gewinnen und vor allem psychologischen Druck auf die Separatisten ausüben", erklärt Brigadier Walter Feichtinger, Leiter des Institutes für Friedenssicherung und Konfliktmanagement gegenüber dem KURIER. Zur plötzlichen taktischen Wendung seitens der Regierung meint Feichtinger: "Es geht nun darum, die Ukraine in ihren territorialen Grenzen und als funktionierenden Staat zu erhalten und tragfähige politische Lösungen für dieses zerrissene Land zu finden. Daher geht die ukrainische Armee hier taktisch gut überlegt vor."

Immer mehr Zivilisten geraten zwischen die Fronten. Im Raum Lugansk starben vier Bergarbeiter, als ihr Bus von einer Granate getroffen wurde. Ein Frau wurde von Scharfschützen erschossen. Die ukrainische Bevölkerung flieht in Massen über die Grenze. Während Russland von einer "humanitären Katastrophe" spricht, äußert sich Amnesty International über massive Menschenrechtsverletzungen im Osten des Landes. Folter und Hunderte Entführungen haben demnach in den vergangenen Monaten das Kriegsgeschehen im Land geprägt.

Gefahr der Abspaltung

In einem Telefonat mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte sich Präsident Poroschenko nun zu Gesprächen über eine erneute Waffenruhe mit den prorussischen Separatisten bereit. Verhandlungslösungen haben, laut Feichtinger, jetzt oberste Priorität. "Je länger dieser Zustand noch andauern wird, desto größer die Gefahr, dass die Ukraine sich wie Moldawien, Südossetien und Abchasien entwickelt. Wenn die Situation sich nicht bald ändert, kommt es zu einer internen Abspaltung und das Land gerät in einen den Zustand eines "frozen conflicts".

Unterdessen hat die EU ihre Sanktionen gegen Russland mit weiteren Einreiseverboten und Kontosperren verschärft.

Als die EU-Spitzen Ende Juni mit dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko den zweiten Teil des Assoziierungsabkommens unterzeichneten, ließen die Drohungen aus Russland nicht lange auf sich warten: „Ernste Konsequenzen“ wurden aus dem Kreml angekündigt.

Um die Lage zu entspannen, soll Moskau eingebunden werden: Am Freitag gab es in Brüssel ein Treffen zwischen Vertretern der EU-Kommission, Russlands und der Ukraine, um die Folgen des Abkommens zu diskutieren.

Russische Ökonomen setzen derweil – mutmaßlich im Auftrag des Kreml – alles daran, das Abkommen als Fehler Poroschenkos darzustellen. Wirtschaftswissenschaftler Alexander Karejewski lieferte jetzt im Staatsfernsehen Zahlen und Fakten nach, die das untermauern sollen. Demzufolge seien die Preise für Benzin innerhalb weniger Tage um das Anderthalbfache gestiegen. Auch die Kosten für Lebensmittel, Medikamente und vor allem für Wohnraum legten kräftig zu – und das, so Karejewski, sei erst der Anfang.

Denn das Assoziierungsabkommen sei bis auf weiteres eine Einbahnstraße: Billigwaren aus der EU würden den ukrainischen Markt überschwemmen, einheimische Erzeugnisse nicht mehr konkurrenzfähig sein. Tausende Arbeitsplätze in der Ukraine seien gefährdet.

Sich stärker an den Westen zu binden, sei ein Fehler: Allein die Verluste, die Kiew durch die Desintegration mit den Ex-Sowjetrepubliken blühen (neben Russland haben Weißrussland, Kasachstan, Armenien und Kirgisistan einen Import-Stopp ukrainischer Waren angedroht) würden sich auf bis zu zehn Milliarden US-Dollar pro Jahr belaufen. Vor allem, wenn Moskau seinen Arbeitsmarkt abschottet: Rund ein Fünftel der Ukrainer im aktiven Alter jobbt in Russland.

Wirtschaftswachstum

In Brüssel hält man dagegen: An diesen Horror-Szenarien aus russischer Feder sei nicht viel dran; vielmehr würde die Ukraine vom Abkommen mit der EU in höchstem Maße profitieren.

So sei man Kiew etwa beim Abbau von Zöllen entgegengekommen: Die Ukraine darf einige ihre Einfuhr-Zölle länger aufrecht halten als die EU.
Gleichzeitig sollen die ukrainischen Exporte in die EU jährlich um eine Milliarde Euro steigen. Allein durch den Zoll-Abbau würden ukrainische Unternehmen 487 Millionen Euro pro Jahr sparen.

Insgesamt soll das Abkommen laut Berechnungen der Kommission der ukrainischen Wirtschaft einen Wachstumsschub von mindestens 1,2 Milliarden Euro jährlich bringen.

Zusätzlich hat die EU schon im März ein Unterstützungspaket für die Ukraine geschnürt, das gut elf Milliarden Euro umfassen wird.

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